Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
oder vielleicht auch erst einige Minuten nach Ladenschluß seelenruhig auf die Straße treten würden.
Viktor wartete noch zehn Minuten und mußte seine letzte Hoffnung schließlich begraben. Es war offensichtlich, daß die Goldhaarige und das Bleichgesicht ihn ausgetrickst hatten. Und wie geschickt sie es angestellt hatten! Sie mußten ihm direkt vor der Nase entwischt sein. Also hatte Artjom recht, ganz so naiv, wie er dachte, war das Goldköpfchen nicht.
Während Viktor Kostyrja zu seinem Auto zurückging, dachte er daran, wie klug Artjom Resnikow doch war, mit seinem sechsten Sinn hatte er sofort die Gefährlichkeit des Mädchens gewittert. Und er, Viktor, hatte diese Gefährlichkeit drei Wochen lang nicht erkannt. Nun hatte sie ihn an der Nase herumgeführt und ihn zum Trottel gemacht. Er würde jetzt zu Artjom gehen und ihm alles erzählen müssen, und Artjom würde wieder zu schreien anfangen und ihn mit Vorwürfen überschütten. Aber es gab Schlimmeres, er würde es aushalten. Für gutes Geld konnte man so etwas und noch viel mehr in Kauf nehmen.
2
»Als Sascha mir von Ihnen erzählt hat, Anastasija Pawlowna, bin ich fast in Ohnmacht gefallen. Was für eine grandiose Schauspielerin Sie sind! Zweimal waren Sie bei mir im Geschäft, und ich habe nichts gemerkt. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, daß Sie Saschas Halbschwester sind und bei der Miliz arbeiten. Anastasija Pawlowna, ich schäme mich so für das, was ich gesagt habe.«
»Was hast du denn gesagt?«
»Als Sie mich gefragt haben, warum ich mich nicht an die Miliz wende, habe ich Ihnen geantwortet, daß man mich dort für eine Verrückte halten wird. Sind sie mir böse?«
Dascha schnatterte schon seit einer halben Stunde, sie war völlig aufgewühlt von den geheimnisvollen Vorgängen, in die sie verwickelt war. Gestern spätabends hatte Sascha ihr gesagt, daß er über eine sehr ernste Angelegenheit mit ihr sprechen müsse. Er erzählte ihr von seiner Halbschwester, die bei der Kripo arbeitete und herauszufinden versuchte, warum und von wem Dascha beschattet wurde. Dann stellte sich heraus, daß jene Kundin, die vor kurzem zweimal hintereinander sehr teure Kleider gekauft und der Dascha von der Beschattung erzählt hatte, Saschas Halbschwester war. Dascha hatte sich noch nicht von der Überraschung erholt, da machte Sascha ihr eine neue Eröffnung. Sie mußten unbemerkt von den Beschattern in die Wohnung seiner Halbschwester gelangen. Deshalb würden sie abends nach Daschas Arbeitsschluß vom »Orion« zu dem Geschäft hinübergehen, das sich unmittelbar neben dem Hotel befand. Dort würde man sie erwarten.
Das alles war zuviel für die an ein geordnetes Leben gewöhnte Dascha Sundijewa, und sie konnte sich nicht beruhigen. Nastja wurde allmählich ungeduldig, sie wollte endlich zur Sache kommen, doch dazu brauchte sie Daschas Aufmerksamkeit und Konzentration.
»Haben Sie denn gar keine Angst, bei der Kripo zu arbeiten, Anastasija Pawlowna? Das muß doch sehr gefährlich sein.«
Nastja lächelte höflich und erklärte mit knappen Worten, daß jede Arbeit auf ihre Weise gefährlich sei. Auch einem Hauswart könne ein Ziegel oder ein Eiszapfen auf den Kopf fallen, außerdem könne man jederzeit von einem Auto überfahren werden.
»Haben Sie auch eine Pistole, Anastasija Pawlowna? Mußten Sie schon einmal schießen? Ich möchte zu gern wissen, ob . . .«
»Schluß, Dascha«, unterbrach Nastja das Mädchen entschieden. »Unsere Zeit ist begrenzt, laß uns zur Sache kommen!«
Das enthusiastische Lächeln verschwand sofort aus Daschas reizendem Gesichtchen, sie wurde ernst und ruhig.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie schuldbewußt. »Ich habe nicht daran gedacht, daß ich Sie aufhalte. Sie sind im Dienst, und ich stehle Ihnen die Zeit mit meinen Kindereien. Verzeihen Sie, Anastasija Pawlowna.«
Da hast du es, du Ekel, dachte Nastja voller Groll gegen sich selbst. Du hast dieses Mädchen zweimal gesehen, dir ist seine Feinfühligkeit und Klugheit aufgefallen, sie hat auf deiner Skala so viele Pluspunkte erreicht wie selten jemand. Warum behandelst du sie jetzt wie eine dumme Pute? Warum hast du ihr nicht gleich gesagt, daß für Schwärmereien keine Zeit ist? Offenbar wirst du es nie lernen, dich so zu verhalten, daß andere sich nicht verletzt fühlen.
Sie breitete vor Dascha die Farbfotos aus, die Bokr ihr am Vortag gebracht hatte.
»Sieh dir diese Aufnahmen bitte aufmerksam an. Erkennst du jemanden darauf?«
»Diesen da.« Dascha deutete
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