Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
Nach dem Kaffee werden sie zusammen duschen. Und danach wieder bumsen. Sie werden eng umschlungen einschlafen und eng umschlungen aufwachen. Warum fühle ich nichts? Warum weine ich nicht, warum raufe ich mir nicht die Haare? Ich weiß jetzt schon, daß ich am nächsten Donnerstag wieder zu ihm gehen werde, weil ich nicht anders kann. Armer, armer Dima, was tue ich dir an!
Lisa warf erneut einen Blick auf die Uhr. Es war schon nach elf, und es hatte keinen Sinn mehr, noch länger zu warten. Dima übernachtete ganz offensichtlich anderswo.
Zu Hause angekommen, öffnete sie leise die Wohnungstür und versuchte, unbemerkt in ihr Zimmer zu schlüpfen, doch ihr Vater hatte sie bereits gehört und kam aus der Küche. Wieder einmal stellte Lisa fest, daß er selbst in Jeans und T-Shirt aussah wie ein echter Militär: groß, stramm, muskulös. Er trug einen kurzen, vorschriftsmäßigen Haarschnitt und hatte diesen besonderen Gesichtsausdruck. Sie hätte diesen Gesichtsausdruck nicht zu beschreiben gewußt, sie sah nur, daß er besonders war, militärisch eben.
»Alles in Ordnung?« fragte der Vater mit einem prüfenden Blick auf seine Tochter. Er ging nie zu Bett, bevor sie nach Hause kam, egal, wie spät es wurde. Er liebte Lisa sehr.
»Alles in Ordnung«, sagte Lisa mit einem gequälten Lächeln.
»Hunger?«
»Nein, ich habe gegessen.«
»Probleme?«
General Vakar hatte sich zu Hause eine lakonische Redeweise angewöhnt. Wozu sollte er seine Kräfte auf Worte verschwenden, wenn seine Worte niemanden interessierten. Jelena gab sich seit dem Tod des Sohnes ganz und gar ihrer Trauer hin, kümmerte sich nicht mehr um den Haushalt. Und die Tochter . . . Man mußte sich damit abfinden, daß Eltern für ihre Kinder immer uninteressant waren.
»Nein, keine Probleme, Papa. Ich bin müde. Ich dusche noch und gehe schlafen.«
»Gut. Dann bis morgen.«
Vakar hatte sich bereits umgewandt, um in sein Zimmer zu gehen, da berührte Lisa ihn am Arm.
»Papa. . .«
»Ja?«
»Papa . . . wann wirst du . . .?«
»Sobald sich die Möglichkeit ergibt«, antwortete der General trocken. Er tat, was er tun mußte, aber er war unter keinen Umständen gewillt, sich auf Diskussionen einzulassen.
»Papa, bitte«, flehte Lisa mit Tränen in den Augen, »mach es bald! Ich kann nicht mehr. Ich habe keine Kraft mehr.«
»Hör auf«, sagte Vakar barsch, obwohl sich sein Herz beim Anblick der weinenden Tochter zusammenkrampfte. »Ich tue, was ich kann. Mehr kann ich dir nicht versprechen.«
Er ging schlafen, Lisa sank auf den Fußboden im Flur und weinte noch lange still vor sich hin, mit dem Kopf auf den Knien. Wenn alles nur schon vorüber wäre. Dann würde die Mutter vielleicht zur Besinnung kommen und wieder so werden wie früher. Und vielleicht würde dann endlich diese Rachsucht nachlassen, die wie Feuer in Lisa brannte. Vielleicht würde es ihr dann gelingen, mit den Tabletten aufzuhören und Dima in Ruhe zu lassen. Vielleicht, vielleicht. . .
3
Als der wunderliche Bokr zum zweiten Mal bei Nastja auftauchte, war Ljoscha gerade bei ihr. Voller Entsetzen blickte er auf den Mann, der im langen Mantel, mit einer wollenen Skimütze auf dem Kopf und in Socken im Zimmer umherging. Diesmal waren seine Socken so gelb wie ein neugeborenes Entenküken.
Nach einem höflichen Gruß zog Ljoscha sich schnellstmöglich in die Küche zurück und begann, das Abendessen vorzubereiten. Durch die Wand hörte er Ausbrüche eines seltsamen, wiehernden Gelächters, vermischt mit kreischenden Lauten und Schluchzern. Nastja hatte ihn bereits am Morgen darauf vorbereitet, daß sie abends Besuch bekommen würde von jemandem, der für sie arbeitete, und Ljoscha war davon ausgegangen, daß es sich um einen Mitarbeiter der Miliz handeln würde. Aber daß Mitarbeiter der Miliz so aussehen konnten, hatte Ljoscha sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt.
Nastja saß mit angezogenen Beinen auf dem Sofa, betrachtete die Farbfotos, die vor ihr lagen, und lauschte aufmerksam Bokrs Bericht.
»Das Mädchen wird von drei Personen beschattet. Einmal von diesem hier, Suren Udunjan. Er wurde zweimal verurteilt, einmal auf Bewährung, das zweite Mal zu Lagerhaft. Ein unguter Typ, durchtrieben und bösartig. Mir jedenfalls hat er nicht gefallen.«
»Er hat hübsche Augen«, bemerkte Nastja, während sie die Aufnahmen betrachtete, auf denen der liebenswürdige Armenier mit den großen leuchtenden Augen zu sehen war.
»Die Augen lügen«, erklärte Bokr
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