Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
sich nur auf Partys und in Discotheken herumtrieben und deren junge, frische Gesichtchen so mit Farbe zugekleistert waren, daß sie der Gemäldegalerie des Madrider Prado glichen, wie Ajrumjan es ausdrückte.
»Gurgen Artaschesowitsch, ich suche eine Leiche«, sagte Nastja ernst.
Der wenig heitere Ort erdröhnte wieder unter dem Donner von Ajrumjans Gelächter.
»Sieh einer an, eine Leiche! Was sollte man hier denn sonst suchen, wenn nicht Leichen. Wen brauchst du denn?«
»Irgendeinen. Einen, der nicht zu den Mordopfern zählt.«
»Das ist etwas Neues in unserer Praxis.« Ajrumjan sah Nastja aufmerksam an. »Schieß los, was ist das Problem?«
»Verstehen Sie, es gibt einen Mann, der. . . den . . . Mit einem Wort, man muß ihn ermordet haben, aber er ist nicht unter den uns bekannten Mordopfern. Bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder wurde die Leiche versteckt und bisher noch nicht gefunden, oder man hat nicht erkannt, daß es sich um ein Mordopfer handelt. So etwas ist doch möglich, oder?«
»So etwas ist sogar sehr gut möglich«, bestätigte Gurgen Artaschesowitsch. »Dafür gibt es eine Menge Beispiele. Erinnerst du dich an den Fall Filatowa im Jahr 1992? Der Mord wurde als Unfall kaschiert, angeblich Stromschlag. Nur durch Zufall entdeckten wir damals, daß es sich nicht um einen Unfall, sondern um Mord handelte. Und vor einiger Zeit warst du wegen eines lange zurückliegenden Mordes an einem Alkoholiker bei mir, erinnerst du dich? Du wolltest wissen, ob es möglich ist, einen Menschen, dem man ein Antidot zum Alkohol ins Gewebe eingesetzt hat, dadurch umzubringen, daß man ihn bewußt zum Trinken verleitet.«
»Ja, ich erinnere mich. Sie sagten damals, daß es ohne weiteres möglich ist. Und nun möchte ich wissen, ob meine Leiche sich vielleicht irgendwo hinter einem ähnlichen Fall versteckt hat.«
»Stell deine Fragen«, forderte Ajrumjan Nastja auf. »Alles, was ich weiß, erzähle ich dir, mein bunt gefiedertes Zaubervöglein.«
»Ich glaube, ich gleiche eher einer alten, zerrupften Krähe«, scherzte Nastja. »Es geht um männliche Personen, die infolge eines plötzlichen Todes in die Leichenhäuser eingeliefert wurden. Alter 35 bis 38, groß, kachektisch. Die Leichen müssen sich freilich gar nicht bei Ihnen befinden, wenn die Todesursache keinen kriminellen Charakter trägt.«
»Um welchen Zeitraum handelt es sich?«
»29. September bis zum heutigen Tag. Könnten Sie die Moskauer Kranken- und Leichenhäuser anrufen und eine Personenliste der Toten anfordern, in der auch die Todesursachen aufgeführt sind?«
»Kann ich, mein Blümchen, Opa Gurgen kann alles. Aber ich glaube nicht, daß du so eine Liste brauchen wirst.«
»Warum nicht?«
Ajrumjans Gesicht nahm den Ausdruck eines Zauberkünstlers an, der im Begriff ist, das seidene Tuch zu lüften und dem verblüfften Publikum statt der erwarteten fünf Kaninchen drei Ferkel zu präsentieren.
»Weil ich selbst die Leiche von Stanislaw Nikolajewitsch Berkowitsch seziert habe, der genau am 29. September eines plötzlichen Todes auf offener Straße gestorben ist, ganz in der Nähe seines Hauses. Prolaps der Mitralklappe. Der Tod trat sofort ein.«
»Das ist nicht möglich!« hauchte Nastja, die ihr Glück nicht fassen konnte. Obwohl vom Standpunkt der Wahrscheinlichkeitstheorie nichts Übernatürliches daran war. Es waren große Anstrengungen unternommen worden, um den Psychopathen unter den Mordopfern der letzten Wochen zu finden, und Nastja hatte sich ihr bisheriges Pech sehr zu Herzen genommen.
»Es ist aber doch so, mein Goldkind. Der Mann ist groß, kachektisch, blutarm, typischer Fall eines angeborenen Herzfehlers. An der Todesursache zweifle ich nicht, du weißt, mit dem Alter bin ich mißtrauisch geworden und überprüfe alles zehnmal. Niemand hat ihn ermordet. Aber jemand hat ihm einen ordentlichen Schrecken eingejagt.«
»Woher wissen Sie das?« fragte Nastja aufgeregt.
»Er hat eine deutliche, ziemlich große Spur am Knöchel, eine Spur, die von einem Schlag stammt. Der Schlag wurde praktisch in dem Moment ausgeführt, in dem der Tod eintrat. Eine Spur, die . . . Aber diese Weisheiten sind nicht interessant für dich. Entscheidend ist, daß er sich nicht etwa selbst gestoßen hat, sondern daß der Schlag von außen kam. Vielleicht wollte man ihn zu Fall bringen, ich weiß es nicht, für so etwas habe ich keine Phantasie, ich bin ein nüchterner, düsterer Mensch ohne Vorstellungskraft. Aber genau im Moment des Schlages ist sein
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