Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
unsicher.
»Natürlich meine ich dich«, lachte Vakar. »Du bist doch Kolja Sakuschnjak aus dem Haus Nummer 24. Stimmt’s?«
»Stimmt. Und wer sind Sie?«
»Ich wohne im Nachbarhaus. Ich habe dich schon als Dreikäsehoch gekannt. Steig ein, ich fahr dich nach Hause.«
Nikolaj stieg ohne zu zögern in Vakars Auto. Das Gesicht des Mannes kam ihm bekannt vor, so als hätte er ihn tatsächlich des öfteren draußen im Hof gesehen.
In einer stillen, menschenleeren Gasse hielt Vakar plötzlich an und griff sich ans Herz.
»Was ist mit Ihnen?« fragte Sakuschnjak erschrocken.
»Nichts«, murmelte Vakar, »manchmal erwischt es mich. Das Alter, weißt du. Auf dem Rücksitz liegt meine Tasche, da ist meine Arznei drin. Gib sie mir bitte, sei so nett.«
Nikolaj wandte sich mit dem Rücken zu Vakar und streckte sich nach der kleinen schwarzen Ledertasche aus, die auf dem Rücksitz lag, ganz rechts in der Ecke. Nach einer halben Minute war alles vorbei. General Vakar benutzte nur seine eigenen Hände, die stark, geschickt und gut durchtrainiert waren. Er brachte die Leiche zurück zu dem Haus, in dem Sakuschnjaks Freundin wohnte, und trug sie vorsichtig ins Treppenhaus. Es war später Abend, niemand hatte Vakar gesehen.
Und wieder wurde zu Hause ein Fest gefeiert, und wieder ließ Jelena Wladimir in ihr Bett. Diesmal hielt die festliche Stimmung lange an, fast zwei Monate. Jelena war fröhlicher geworden, sie lächelte jetzt öfter, manchmal legte sie die Trauerkleider ab und zog etwas Helles an. Vakar hatte den Eindruck, daß es auch Lisa etwas besser ging.
Als der schwierigste Fall erwies sich der dritte, der Fall Ravil Gabdrachmanow. Zu der Zeit, als Vakar ihn ausfindig machte, hatte Ravil gerade seine Ausbildung als Bankkaufmann abgeschlossen, er arbeitete in einer Sparkasse und machte ein Abendstudium an der Hochschule für Wirtschaftswissenschaft. Im Jahr 1993 war er zweiundzwanzig Jahre alt, er war verheiratet und hatte ein Kind. Ein feiner, subtiler Mensch mit einem guten, warmherzigen Lächeln. Niemand würde ihn für jemanden halten, der ein Menschenleben auf dem Gewissen hatte, für jemanden, der an einem Mord beteiligt gewesen war, wenn auch schon vor langer Zeit. Außerdem war seine Frau noch ganz jung, fast noch ein Kind.
Vakar verfolgte ihn monatelang, es verging der Frühling, der Sommer und der Herbst, und er konnte sich nicht entschließen. Es schien ihm unmöglich, seine Hand gegen Ravil Gabdrachmanow zu erheben. Aber im späten Herbst des Jahres 1993 tat er es endlich doch. Und von dieser Zeit an ging er jeden Monat regelmäßig zur Post und machte eine Geldüberweisung. Auf den Überweisungsschein schrieb er den Namen der Empfängerin: Gabdrachmanowa, Rosa Scharafetdinowna.
Nach jedem begangenen Mord, nach jedem vollzogenen Racheakt blühte Jelena auf, wurde lebendiger, und allmählich verwandelte sich die Familie wieder in jene, von der Vakar einst geträumt hatte. Wladimir erfüllte seine Pflicht so, wie er sie verstand. Er bewahrte Jelena vor dem Gefängnis und seine Tochter vor einem lebenslangen Aufenthalt in der Psychiatrie, auch wenn er dafür sein eigenes Leben ruinierte. Aber in letzter Zeit kam ihm immer öfter der Gedanke, daß er seine Pflicht als Ehemann und Vater mißverstand. Er hatte fünfzig Jahre lang mit einer lebensuntauglichen Idee gelebt, die schließlich zur Tragödie geführt hatte. Und er begann, das Wort Pflicht zu hassen.
4
Nach einer Stunde erschien Bokr, pünktlich auf die Minute. Nastja hatte inzwischen zu Abend gegessen, sich umgezogen und es sogar geschafft, eine heiße Dusche zu nehmen, um ihren schmerzenden Rücken zu entspannen.
»Nun, Anastasija Pawlowna«, begann Bokr, »ich muß Ihnen mitteilen, daß es keinerlei Neuigkeiten von der Front gibt. Unsere Helden bewegen sich nach wie vor in denselben Kreisen, wir haben etwa zwanzig Personen ausgemacht, mit denen die drei und Resnikow mehr oder weniger ständig verkehren. Hier sind ihre Fotos, ihre Namen und einige Angaben zu den Personen. Es ist natürlich noch nicht viel, aber wissen Sie, ich möchte mich nicht verzetteln und hektisch einen nach dem anderen überprüfen. Schauen Sie sich die Unterlagen in Ruhe an und sagen Sie mir, welche der Personen Sie am meisten interessiert. Mit der werden wir uns dann ausführlich beschäftigen.«
Doch das Studium der Namen und Fotos führte bei Nastja zu keinerlei neuen Erkenntnissen. Sie hatte keinen Schlüssel in der Hand, der ihr dabei hätte helfen können, die
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