Anastasija 04 - Tod und ein bisschen Liebe
mit Ihnen beraten?«
»Natürlich hat sie das. Ich wollte ihr das Jurastudium ausreden, aber mein Mann hat sie unterstützt. Seine Argumente haben sich als die stärkeren erwiesen. Warum fragen Sie danach?«
»Es interessiert mich einfach. Es ist ja kein ausgesprochen weiblicher Beruf, aber ihre Tochter hat ganz offensichtlich Erfolg. Geben Sie zu, daß das ein interessanter Stoff für unsere Zeitung wäre.«
»Mag sein, mag sein«, erwiderte Nadeshda Rostislawowna nachdenklich. »Aber wie ich meine Tochter kenne, wird sie so einer Sache niemals zustimmen.«
»Warum denn nicht?«
»Das ist schwer zu erklären«, sagte sie lachend. »Es ist wohl ihr Charakter.«
»Legt Anastasija denn keinen Wert auf Ruhm?«
»Stellen Sie sich vor, sie legt tatsächlich keinen Wert darauf.«
»Das kann nicht sein. Jeder Mensch strebt nach Ruhm, und die Frauen ganz besonders. Wir werden sie bestimmt überreden können.«
»Versuchen Sie es«, entgegnete Nadeshda Rostislawowna lächelnd. »Aber ich kann Ihnen keinen Erfolg garantieren.«
* * *
Gegen sechs Uhr abends normalisierte sich die Lage endlich wieder. Der Journalist und der Fotograf waren nach getaner Arbeit wieder abgezogen, Sascha holte seine Frau früher ab als vorgehabt, er trank schnell noch eine Tasse Tee und fuhr mit Dascha nach Hause. Tschistjakow, der mit einem Buch in der Hand auf einer Bank in der Nähe des Hauses saß, sah Schewzows gelben Wagen davonfahren und kehrte sofort in die Wohnung zurück. Jetzt waren sie zu dritt, Nastja, ihr Mann und ihre Mutter.
Nastja wurde das Gefühl nicht los, daß ihre Mutter ihr fremd geworden war. Sie lebte schon so lange im Ausland, daß sie allmählich den Bezug zum russischen Alltag zu verlieren schien. Sie verstand nicht, warum es besser und bequemer war, mit der Metro zu fahren als mit dem Auto, und Nastja mußte ihr lang und breit erklären, daß es jetzt in Moskau sehr viel mehr Autos als früher gab, daß man unterwegs eine Stunde im Stau steckenbleiben konnte, und daß sie, Nastja, deshalb auf keinen Fall ein Auto wollte. Die Mutter verstand nicht, warum es so wichtig war, rechtzeitig sein Gehalt ausbezahlt zu bekommen und weshalb so viel Aufhebens darum gemacht wurde.
»Man muß sich sein Geld richtig einteilen«, belehrte sie ihre Tochter. »Es darf nicht sein, daß man am Monatsende keine Kopeke mehr besitzt. Leg dir eine bestimmte Summe zurück, und rühre sie nicht an, damit du für den Fall, daß das Gehalt verspätet ausgezahlt wird, eine Rücklage hast.«
»Mama, es geht nicht darum, daß mir mein Geld nicht reicht und ich am Monatsende nichts mehr habe, es geht darum, daß du heute für das Gehalt, das du ausbezahlt bekommst, zum Beispiel zweihundert Dollar kaufen kannst, und eine Woche später nur noch hundertneunzig. Der Dollarkurs steigt ständig, das ist das Problem.«
»Tatsächlich? Daran kann ich mich einfach nicht gewöhnen . . .«
Als Ljoscha für einen Moment aus dem Zimmer gegangen war, nutzte die Mutter die Gelegenheit, um Nastja leise zu fragen:
»Sag mal, dieser Fotograf, Anton . . . Kennst du ihn schon lange?«
»Seit einer Woche. Warum?«
»Hast du ihn irgendwie verärgert?«
»Nein. Wie kommst du darauf?«
»Er mag dich nicht.«
»Hör auf, Mama« sagte Nastja stirnrunzelnd. »Warum sollte er mich nicht mögen? Wer bin ich denn für ihn? Wir haben uns zufällig auf dem Standesamt kennengelernt. Ich war zur Trauung dort und er, um zu arbeiten, zu fotografieren.«
»Nein, Töchterchen«, widersprach die Mutter eigensinnig, »er hat etwas gegen dich.«
»Mama, was denkst du dir denn da aus? Warum sollte er etwas gegen mich haben?«
»Weil er mich sofort gefragt hat, ob du deine Stelle bei der Miliz über Beziehungen bekommen hast.«
Nastja lachte laut auf, obwohl ihr eher nach Weinen zumute war.
»Mama, du hast dich zu sehr daran gewöhnt, unter satten, zufriedenen Menschen zu leben, bei denen alles in Ordnung ist und die sich deshalb den Luxus erlauben können, gegen niemanden etwas zu haben und alle zu mögen. Du bist schon zu lange weg aus Rußland, und deshalb weißt du nicht, daß es heute ganz normal geworden ist, über Schiebung und Protektion zu sprechen, niemand schämt sich mehr dafür. Wir sind alle erbittert und hassen uns gegenseitig. Mach die Augen auf, Mama, und schau, wie wir leben!«
Nastja sah, daß sie ihre Mutter verletzt hatte, und es tat ihr leid, daß sie sich nicht zurückgehalten hatte. Sie hätte nicht so hart mit ihr sprechen dürfen. Aber wie
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