Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
Gedanken versunken, dass sie die Zeit vergessen hatte. In der Wohnung war es still, so still, als wäre sie allein, nichts störte sie beim Denken, und als sie sich besann, war es schon fast ein Uhr nachts. Sie schob die Blätter schnell wieder ins Kuvert, sprang vom Sofa und lief in die Küche. Pawel saß in seiner Lieblingspose da, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Hände über der Brust verschränkt, die Augen geschlossen. Die Augäpfel bewegten sich nicht unter der dünnen Haut der Lider, sodass Nastja annahm, dass er eingeschlafen war.
»Ich kann Ihnen ein Bett auf dem Fußboden machen«, sagte sie leise.
Sauljak öffnete sofort die Augen.
»Nicht nötig, ich kann im Sitzen schlafen. Aber wenn es Ihnen lieber ist, dass ich auf dem Fußboden neben Ihrem Bett schlafe, kann ich auch das tun. Wenn meine Anwesenheit Sie belästigt und bedrängt, bleibe ich hier sitzen. Glauben Sie mir, ich bin Ihnen dankbar für Ihre Hilfe und möchte Ihnen keinerlei Umstände machen.«
Gut gemacht, dachte Nastja. Wie könnte ich dich jetzt noch hier in der Küche sitzen lassen! Damit würde ich ja zugeben, dass deine Anwesenheit mich tatsächlich belästigt und bedrängt. Zum Teufel mit dir. Es wird mir nichts anderes übrig bleiben, als dich tatsächlich neben meinem Bett schlafen zu lassen, was allerdings den Vorteil hat, dass ich dich dann sehen kann. Sonst müsste ich ständig auf der Hut sein und mich fragen, ob du in der Küche vielleicht gerade ein Messer wetzt, mit der unguten Absicht, es mir in den Hals zu stoßen.
Sie hievte eine Matratze von der Zwischendecke im Flur, warf sie in der Mitte des Zimmers auf den Boden, holte ein Kissen, eine Wolldecke und Bettwäsche aus dem Schrank und ging ins Bad. Als sie wieder zurückkam, lag Pawel unter der Decke auf der Matratze. Das Kissen steckte im Überzug, das Bettuch und der Überzug für die Decke lagen unberührt auf dem Sessel. Nastja bemerkte den Pullover, der ebenfalls auf dem Sessel lag, sonst konnte sie keinerlei abgelegte Kleidung entdecken. Pawel hatte sich also nicht ausgezogen, er hatte sich in seinen Kleidern hingelegt, genauso wie sie selbst, als sie mit ihm im Hotel übernachtet hatte.
Nastja löschte das Licht und schlüpfte in ihr Bett. An Schlafen war nicht zu denken, sie rollte sich nur bequem zu einem Knäuel zusammen und versank wieder in Gedanken. Mal dachte sie an den Henker und daran, wie man ihn fassen könnte, mal an Pawel und die beiden Verfolger. Sauljak bewegte sich nicht auf der Matratze, aber sie konnte seine Anwesenheit nicht vergessen. Zwischendurch gelang es ihr, ein wenig einzudösen, aber ihr Schlaf blieb flach und unruhig, nach kurzer Zeit erwachte sie wieder, zuckte zusammen und fühlte sich immer unwohler. Schließlich gab sie ihre erfolglosen Schlafversuche auf und begann einfach darauf zu warten, dass es halb sieben wurde und der Wecker klingelte.
Als das elektronische Fiepen ertönte, drückte Nastja sofort mit der flachen Hand auf den Knopf, erhob sich und ging ins Bad. Als sie es nach einer Viertelstunde verließ, war Pawel nicht mehr in der Wohnung. Nastja ging zum Fenster und sah nach unten. Weder Sauljaks schwarzer Saab noch der silberfarbene Audi waren zu sehen. Sie zuckte verständnislos mit den Schultern und begann, Kaffee zu kochen. Nach der schlaflosen Nacht war ihr Kopf dumpf und schwer, die Gedanken regten sich nur langsam und lustlos.
Sie trank bereits die zweite Tasse Kaffee, als es an der Wohnungstür läutete. Sie zuckte zusammen und warf einen Blick auf die Straße, bevor sie öffnen ging.
Pawels Saab stand direkt unter dem Fenster.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Pawel kalt, während er die Wohnung betrat. »Ich musste kurz hinuntergehen und einiges überprüfen, mich vergewissern, dass mein Wagen nicht mit Bomben gespickt ist. Bei dieser Gelegenheit habe ich die beiden von Ihrem Haus weggelotst, damit Sie in Ruhe zur Arbeit gehen können.«
»Und warum sind Sie zurückgekommen?«, fragte Nastja erstaunt.
»Ich wollte mich von Ihnen verabschieden. Morgen fahre ich wieder weg, vielleicht sogar schon heute. Wir werden uns in nächster Zeit wohl kaum wieder sehen, vorausgesetzt natürlich, es passiert nicht wieder etwas. Außerdem habe ich Ihnen versprochen, Sie zur Arbeit zu bringen.«
Schlaumeier, dachte Nastja. Du hast die beiden doch nur von meinem Haus weggelotst, damit ich ihnen nicht begegne. Warum liegt dir nur so viel daran, dass ich nicht mit ihnen zusammenkomme? Warum hast du so große
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