Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
gemeinsam ein Hotel, trugen denselben Familiennamen und siezten sich in der Öffentlichkeit. Warum taten sie das? Wollten sie verbergen, dass sie sich gut kannten oder sogar miteinander verwandt waren? Offenbar hielten sie die anderen für komplette Idioten. Wer würde schon glauben, dass ein Mann und eine Frau, die denselben Familiennamen trugen und ein Zimmer im Hotel teilten, sich nur flüchtig kannten! Oder sie versuchten gar nicht, jemanden hinters Licht zu führen, sondern hatten Streit miteinander. Im Restaurant hatte sie ihn sogar geohrfeigt, und er hatte ihr den Arm so auf dem Rücken verdreht, dass sie in die Knie gegangen war. Der Grund dafür konnte durchaus Eifersucht gewesen sein. Man hatte Solomatin zugetragen, dass die Frau ganz offen mit einem Hotelgast geflirtet und sich von ihm sogar vor Sauljaks Augen hatte küssen lassen. Da war es kein Wunder, dass er wütend geworden war. Aber wozu machte diese Frau das? Nichts als Rätsel.
* * *
Eine der Errungenschaften der Wirtschaftsreform bestand darin, dass der früher eklatante Unterschied zwischen Stadt und Land sich jetzt verwischt hatte. Auch in einer Stadt wie Uralsk gab es heute in den Geschäften reichlich Lebensmittel, und die Auswahl erlaubte es Nastja, selbst in einem Hotelzimmer ein durchaus annehmbares Mittagessen auf den Tisch zu bringen. Italienische Salate in Plastikschälchen, Suppenterrinen, die man nur mit heißem Wasser aufgießen und drei Minuten ziehen lassen musste, verschiedene Joghurts und Desserts und sogar abgepackter französischer Käse. Sie hatte von General Minajew reichlich Geld bekommen und füllte ungeniert ihren Einkaufskorb.
»Sie leben ja auf großem Fuß«, bemerkte Pawel mit einem missbilligenden Blick auf das bunte Päckchen mit Nüssen, das in Nastjas Einkaufskorb wanderte.
»Davon kann keine Rede sein«, widersprach sie. »Ich bin nur einfach von Natur aus faul und deshalb vorausschauend. Wer weiß, wie lange wir hier festsitzen werden bis zu unserem Abflug nach Jekaterinburg, und ich möchte nicht jedes Mal wieder einkaufen gehen müssen, wenn wir Hunger bekommen. Welchen Käse möchten Sie, den mit Krabben oder den mit Schinken?«
»Das ist mir egal. Ich mag sowieso keinen Käse, nehmen Sie das, was Ihnen schmeckt.«
»Gut. Und was schmeckt Ihnen? Genieren Sie sich nicht, Pawel, mein Auftraggeber wird dadurch nicht ärmer.«
»Gar nichts.«
»Mein Gott, immer dasselbe. Das Einkaufen mit Ihnen macht wirklich keinen Spaß. Warum sind Sie eigentlich so langweilig? Man sollte das Leben genießen, aber Sie bringen sich selbst um kleine irdische Freuden wie gutes Essen. Sind Sie eigentlich immer in dieser Friedhofsstimmung?«
»Tun Sie mir einen Gefallen und lassen Sie meine Stimmung in Ruhe.«
»Ist gut. Aber dann schauen Sie wenigstens mal nach, was unsere Freunde gerade machen. Damit Sie wenigstens zu irgendetwas gut sind.«
Sie standen bereits an der Kasse, und vorn am Eingang erblickte Nastja Jura Korotkow. Der in der Wolfspelzmütze war ihr nur ganz kurz beim Verlassen des Hotels aufgefallen, und die beiden aus dem Wolga hatte sie bis jetzt überhaupt noch nicht bemerkt. Seltsam. Wohin waren sie bloß alle verschwunden?
»Alle sind an Ort und Stelle«, berichtete Sauljak. »Sie nehmen sich ein Beispiel an Ihnen und versorgen sich ebenfalls mit Lebensmitteln.«
»Und mein Verehrer?«
»Der steht draußen vor dem Eingang.«
»Vielleicht sollten wir ihn zu unserem gemeinsamen Mittagessen einladen, es wäre immerhin amüsant.«
»Hören Sie auf, mich mit Ihrem ständigen Verlangen nach Amüsement zu traktieren. Sie sind schließlich im Dienst, also tun Sie Ihre Arbeit. Ich persönlich sehe keinerlei Gründe, mich zu vergnügen.«
»Dann hatten Sie noch nie richtig Angst.«
»Wie meinen Sie das?«, erkundigte sich Sauljak düster.
Die Kundin vor ihnen nahm das Wechselgeld von der Kassiererin entgegen und ging weiter. Nastja rückte auf und beschloss, Sauljak nicht zu antworten. Wenn er wirklich wissen wollte, was sie meinte, würde er noch einmal nachfragen. Das würde ihm zwar einen weiteren Zacken aus der Krone brechen, aber umso besser. Sie würde ihn schon noch knacken.
Der Inhalt des grünen Einkaufskorbes verschluckte eine beträchtliche Summe, und Nastja musste innerlich grinsen. Von ihrem Gehalt hätte sie sich niemals so teure Lebensmittel leisten können, die zudem nicht für mehr reichten als für ein Mittag- und ein Abendessen. Von so einer Summe lebte sie mit Ljoscha eine ganze
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