Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
Woche.
Auf dem Rückweg zum Hotel kamen sie an einem Zeitungskiosk vorbei. Pawel verlangsamte seinen Schritt. Nastja begriff, dass er gern ein paar Zeitungen gekauft hätte, sich aber nicht dazu überwinden konnte, sie um Geld zu bitten. Sie hatte nur den Bruchteil einer Sekunde, um sich zu entscheiden. Sollte sie sich großmütig zeigen und ihm die Demütigung ersparen? Oder sollte sie so tun, als hätte sie nichts bemerkt, damit er seine Abhängigkeit von ihr zu spüren bekam? Wie sollte sie sich verhalten, um die kleinen Siege, die sie so mühsam errungen hatte, nicht mit einem Schlag wieder zu verschenken?
»Was ist, Pawel Dmitrijewitsch, haben Sie Lust auf das gedruckte Wort bekommen?«, fragte sie spottlustig und stellte die schwere Einkaufstasche ab. »Ich werde Ihnen aus grundsätzlichen Erwägungen ein paar Zeitungen kaufen. Vielleicht findet sich in einer von ihnen ein Artikel über gutes Benehmen, und Sie werden zu Ihrer Überraschung erfahren, dass es sich für einen Mann gehört, einer Dame eine schwere Tasche abzunehmen. Haben Sie davon noch nie etwas gehört?«
Pawel nahm wortlos die Tasche und presste seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Nastja kaufte einige regionale und überregionale Zeitungen und ein dünnes Kreuzworträtselheft.
»Falls Sie sich weiterhin in Schweigen hüllen, kann ich wenigstens ein paar Kreuzworträtsel lösen. Was sind Sie eigentlich von Beruf?«, fragte sie, während sie die Zeitungen in die Tasche stopfte.
»Techniker«, antwortete er kurz.
»Wunderbar. Dann werden Sie mir Wörter einsagen, die ich nicht kenne.«
»Und was für eine Ausbildung haben Sie?«
»Ich habe Physik und Mathematik studiert.«
»Tatsächlich? Kann man an dieser Fakultät auch ein Schauspielstudium machen?«
»Soviel ich weiß, nicht. Warum fragen Sie?«
»Sie haben doch gesagt, Sie sind Schauspielerin.«
»Tatsächlich?«, flötete Nastja. »Ich kann mich nicht erinnern, so etwas gesagt zu haben. Das bilden Sie sich ein.«
Sein Gesicht versteinerte, die Augen schlossen sich für einen Moment, so, als müsse er einer Anfechtung widerstehen und sich fassen. Jetzt ist er wütend, dachte Nastja. Das ist gut. Soll er mich ruhig für eine Irre halten, die Hauptsache ist, dass er mich nicht versteht. Ich muss auf jeden Fall sein Interesse an mir wecken. Die ganz normale menschliche Neugier, die nicht eingeschränkt ist von Angst. Angst kann ihn seine Wissbegier vergessen lassen. Aber wenn der Gegenstand seiner Neugier keine Angst in ihm erzeugt, wird er ihn unbedingt auseinander nehmen und nachsehen wollen, wie er zusammengesetzt ist. An dieser Neugier werde ich dich packen, mein Freund, du wirst mir nicht entkommen.
Auf dem Zimmer setzte Nastja sofort Kaffeewasser auf und begann zu essen. Diesmal stellte Sauljak sich nicht an und aß mit, aber Nastja hatte den Eindruck, dass ihm jeder Bissen im Halse stecken blieb. Hatte er wirklich überhaupt keinen Appetit? Seltsam. War vielleicht etwas mit seiner Gesundheit nicht in Ordnung, mit seinem Magen oder mit der Leber?
»Haben Sie vielleicht gesundheitliche Probleme, Pawel Dmitrijewitsch?«, fragte sie, während sie genüsslich Krabbensalat mit Pilzen aß.
»Mit mir ist alles in Ordnung.«
Das glaube ich dir nicht, antwortete Nastja ihm in Gedanken. Sie hatte sich bereits daran gewöhnt, diese wortlosen Gespräche mit Pawel zu führen. Gestern hast du die Badezimmertür nicht abgeschlossen. Das typische Verhalten eines Herzkranken, der befürchtet, dass ihm im heißen Wasser schlecht werden könnte. Ich schließe die Badezimmertür auch nie ab, damit ich für den Fall der Fälle nach Ljoscha rufen kann. Wenn man erst die Tür aufbrechen muss, kann es zu spät zu sein. Aber ob du nun herzkrank bist oder nicht – irgendein Gebrechen hast du mit Sicherheit. Du willst es nur nicht zugeben. Du willst weiterhin den Supermann spielen. Nur zu, nur zu.
Nach dem Essen setzte sie sich aufs Bett, schob sich ein Kissen in den Rücken und begann, Kreuzworträtsel zu lösen. Das einzige Geräusch im Zimmer bestand im Rascheln der Zeitungsblätter. Pawel studierte die Presse.
»Wenn Sie sich für politische Neuigkeiten interessieren, können Sie ruhig den Fernseher anstellen«, sagte Nastja, ohne von ihrem Kreuzworträtsel aufzublicken. »Es stört mich nicht.«
»Sie sind sehr liebenswürdig«, entgegnete er mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme. Das war ein gutes Zeichen. Seine Emotionen erwachten also allmählich aus dem Tiefschlaf.
Eine
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