Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
vorsichtig, Nastja, sagte sie sich selbst. Pawel Dmitrijewitsch führt etwas im Schilde. Oder hat er sich etwa entspannt, weil er plötzlich keine Gefahr mehr in mir sieht? Was ist passiert? Denk nach, Nastja, denk nach, wappne dich, sonst erlebst du gleich wieder die nächste Überraschung.
»Ich verrate es Ihnen«, sagte sie, »aber erst bitte ich Sie darum, mir noch eine Wurst zu holen. Hier ist Geld.«
Pawel erhob sich wortlos und kämpfte sich durch das Gedränge zur Theke durch. Nastja dachte mit Entsetzen an die viel zu scharfe Räucherwurst, die zu verzehren ihr nun zum zweiten Mal bevorstand. Aber sie hatte Pawel zur Theke schicken müssen, um ihren Verdacht zu überprüfen. Und sie sah, dass es genau so war, wie sie vermutet hatte. Er suchte jemanden, nicht unter den Gästen der Bar, sondern unter dem Personal. Als er die Theke erreicht hatte, blickte er immer wieder zum Personaleingang, aus dem ständig Kellner in nicht gerade blütenweißen Jacken herauskamen. Sie gingen zwischen den Tischen umher, sammelten leere Gläser und schmutziges Geschirr ein, stellten riesige Stapel sauberer Teller auf der Theke ab, brachten den Gästen das Essen. Warum hatte Pawel sie in dieses Lokal gebracht? Hatte er hier Komplizen, mit deren Hilfe er sie loszuwerden hoffte? Das war nicht sehr wahrscheinlich. Denn sie waren ja völlig zufällig in dieser Stadt gelandet. Obwohl es bekanntlich die verrücktesten Zufälle gab. Vielleicht hatte Pawel tatsächlich ausgerechnet in dieser Stadt Freunde. Er war es schließlich gewesen, der diesen Spaziergang so überraschend vorgeschlagen hatte. Er hatte an dieser Bushaltestelle aussteigen wollen, und es war seine Idee gewesen, in diese Bar zu gehen. Sei also gefasst auf Schwierigkeiten, Nastja, sagte sie sich. Bleibt nur die Hoffnung, dass Korotkow irgendwo in der Nähe ist und im Notfall zu Hilfe eilen wird.
Pawel kam zurück und stellte den Teller mit der widerwärtigen Räucherwurst vor Nastja auf den Tisch.
»Ich habe meine Pflicht ehrlich erfüllt«, sagte er, »jetzt sind Sie dran.«
Oh, das war ja sogar ein Anflug von Humor, dachte Nastja. Wir schreiten mit Siebenmeilenstiefeln voran. Aber mir schwant nichts Gutes. . .
»Verstehen Sie, Pawel Dmitrijewitsch, die meisten Menschen machen einen Fehler. Sie achten auf den Inhalt dessen, was ihnen jemand erzählt. Das ist falsch.«
»Tatsächlich? Und wie ist es richtig?«
»Ich werde es Ihnen erklären. Nicht die Worte sind wichtig, sondern die Tatsachen. Jemand sagt einen bestimmten Satz oder handelt in einer bestimmten Weise, und die Wahrheit verbirgt sich in der Tatsache, dass er es für nötig hielt, diesen Satz zu sagen oder genau so zu handeln. Verstehen Sie den Unterschied?«
»Nicht ganz.«
»Dann erkläre ich es Ihnen an einem Beispiel. Wir kennen uns inzwischen seit zwei Tagen. In diesen zwei Tagen haben Sie mich nicht gerade mit ausführlichen Unterhaltungen verwöhnt, Sie haben mir kaum Fragen gestellt und auf die meinen entweder gar nicht oder nur sehr einsilbig geantwortet. Denken Sie etwa, ich würde daraus schließen, dass Sie deshalb ganz grundsätzlich ein wortkarger und ungeselliger Mensch sind? Es wäre sehr dumm von mir, wenn ich so denken würde.«
»Und wie denken Sie also tatsächlich?«
»Ich bin der Meinung, dass Sie auf mich den Eindruck eines verschlossenen und wortkargen Menschen machen möchten. Und meine Aufgabe ist es, herauszufinden, warum Sie das möchten. Wenn ich das herausgefunden habe, dann werde ich die Wahrheit kennen.«
»Haben Sie Vermutungen?«
In Pawels Gesicht trat ein Ausdruck von Neugier, die nicht gespielt, sondern ganz aufrichtig wirkte.
»Jede Menge. Vermutung eins. Ich bin Ihnen von Herzen unsympathisch, ich gehe Ihnen furchtbar auf die Nerven, und Sie wollen einfach so wenig wie möglich mit mir zu tun haben. Vermutung zwei. Sie haben nichts gegen mich persönlich, aber es geht Ihnen gesundheitlich nicht gut, und das Sprechen fällt Ihnen schwer. Sie wollen sich nicht beklagen, da Sie mich nicht kennen, Ihre gute Erziehung und Ihr männlicher Stolz verbieten es Ihnen, eine fremde Frau mit Ihren Schwierigkeiten zu belästigen. Vermutung drei. Sie wollen mich mit Ihrer Kälte, mit Ihrer ausweichenden Art und Ihrer Geheimnistuerei herausfordern, provozieren, damit ich die Nerven verliere und damit die Kontrolle über mich selbst. Diese Vermutung gilt für den Fall, dass Sie mir nicht trauen. Vermutung vier. Sie sind wirklich einfach nur ein wortkarger Muffel. Ich
Weitere Kostenlose Bücher