Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
könnte noch endlos so weitermachen, aber ich nehme an, Ihnen ist jetzt klar, was ich meine. Wichtig sind nicht Worte und Verhalten, sondern die Motive, die dahinter stehen.«
»Und welche Vermutung kommt nach Ihrer Meinung der Wahrheit am nächsten?«
»Das weiß ich noch nicht«, erwiderte sie so sorglos wie möglich. »Um das herauszufinden, müsste ich Sie entweder lange genug beobachten oder Spezialtests mit Ihnen durchführen. Aber das habe ich nicht vor. Meine Aufgabe ist es, Sie sicher nach Moskau zu bringen. Ich habe kein Interesse daran, in Ihrer Seele herumzuwühlen.«
»Wenn ich von Ihrer Methode ausgehe, muss ich diese dann auch auf die Frage nach Ihrer Berufsausbildung anwenden? Mal behaupten Sie, dass Sie Schauspielerin sind, dann wieder erklären Sie mir, dass Sie Physik und Mathematik studiert haben. Soll das heißen, dass Sie mich absichtlich täuschen, damit ich mir über Sie den Kopf zerbreche?«
»Das ist eine mögliche Variante. Mehr haben Sie nicht anzubieten?«
»Die andere Variante könnte sein, dass Sie dumm und unerfahren sind und sich an Ihre eigenen Lügen nicht erinnern können.«
»Bravo! Was noch?«
»Sie sind wirklich Schauspielerin, aber irgendwann haben Sie auch Physik und Mathematik studiert.«
»Sie sind ein gelehriger Schüler, Pawel Dmitrijewitsch. Ich beglückwünsche Sie. Und was ist nun die Wahrheit?«
»Ich habe die Möglichkeit, das ohne größere Mühe herauszufinden. Haben Sie einen Bleistift oder einen Kugelschreiber dabei?«
Nastja kramte in ihrer Handtasche und reichte ihm einen Kugelschreiber. Pawel nahm eine Serviette und beschrieb sie mit einer langen Gleichung.
»Und nun zeigen Sie mir, was Sie von Mathematik verstehen«, sagte er und schob Nastja die Serviette über den Tisch.
Sie überflog die lange Reihe der Zahlen und Symbole, dann nahm sie den Kugelschreiber, strich eines der Symbole aus und setzte ein anderes darüber.
»Wenn ich mich nicht täusche, muss diese Gleichung so aussehen. Ich habe diese Aufgabe schon hundertmal gelöst. Soll ich die Lösung aufschreiben, oder glauben Sie mir auch so?«
»Ich glaube Ihnen auch so.« Sauljak knüllte die Serviette zusammen und warf sie in den Aschenbecher. »Jetzt muss ich nur noch herausfinden, ob Sie Schauspielerin sind.«
»Das wird schon schwieriger werden«, lachte Nastja. »Meine Mathematikkenntnisse konnten Sie als Techniker leicht überprüfen. Aber wie wollen Sie meine schauspielerischen Fähigkeiten testen?«
»Ich werde darüber nachdenken. Wenn Sie satt sind, dann würde ich vorschlagen, dass wir jetzt wieder gehen.«
Alles klar, dachte Nastja. Der, den er sucht, ist nicht hier. Jetzt wird er mich an irgendeinen anderen Ort schleppen.
»Wohin wollen wir denn gehen?«, fragte sie unschuldsvoll.
»Wir werden ein anderes Lokal finden. Hier wird es auf Dauer langweilig.«
Sie erhoben sich, knöpften ihre Jacken zu und schoben sich durch das Gedränge zum Ausgang. Die zwei aus dem Wolga machten sich ebenfalls zum Aufbruch bereit. Vor ihnen standen noch zwei halb volle Biergläser, und Nastja sah mit einem Seitenblick, dass sie die Gläser mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit mit großen, eiligen Schlucken leerten. Was man bezahlt hatte, durfte man schließlich nicht verkommen lassen.
Als sie aus der stickigen Bierbar nach draußen traten, erschien Nastja die frostige Luft angenehm frisch und kühl. Sie waren gerade erst einige Meter gegangen, Nastja war noch gar nicht dazu gekommen, so richtig durchzufrieren, als Pawel bereits das nächste Lokal ansteuerte und die Tür öffnete. Wieder eine Bar, aber hier ging es gesitteter zu.
»Was sollen wir hier?«, fragte Nastja verwundert, nachdem sie Platz genommen hatten. »Sie trinken weder Kaffee noch Alkohol, und hier gibt es nichts anderes.«
»Ich nehme Saft. Und Sie mögen doch Kaffee, soviel ich weiß. Also bestellen Sie. Es gibt übrigens auch Campari.«
»Haben Sie etwa beschlossen, mir eine Freude zu machen?«
»Ich stehe in Ihrer Schuld. Sie haben mir offen und ehrlich davon erzählt, wie Sie Wahrheit von Lüge unterscheiden, und ich will mich revanchieren. Ich kann Sie zwar nicht einladen, aber ich kann mich nach Ihren Wünschen richten. Ich möchte nicht, dass Sie mich für undankbar halten. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar dafür, dass Sie mich am Lagertor in Empfang genommen haben, auch wenn es nicht so aussehen mag. Was soll ich Ihnen bringen?«
»Kaffee, ein Stück Kuchen und einen Martini. Wenn es keinen Martini gibt,
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