Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
liebender Ehemann war. Er wollte einfach nur, dass die beiden so schnell wie möglich frühstückten und aus dem Haus verschwanden. Normalerweise trödelten sie ewig herum und brauchten eine halbe Stunde, um ein Ei zu braten. Heute aber konnte Tschinzow keine überflüssigen Ohren in der Wohnung gebrauchen, sein Gespräch mit Sauljak ging niemanden etwas an.
»Oh, Schatz, was ist los?«, flötete Tschinzows Frau, als sie im Morgenmantel in die Küche geschlurft kam. »Ist heute Feiertag?«
»Ich konnte einfach nicht mehr schlafen«, sagte Tschinzow so unbefangen wie möglich, »darum bin ich früher aufgestanden. Geh dich duschen, alles ist schon fertig. Ich werde Lena wecken.«
Beim Frühstück brachte Tschinzow keinen Bissen hinunter, er trank nur drei Tassen Tee. Danach stellte er sogar das Bügeleisen an und bügelte den Rock, den seine Frau anziehen wollte. Ihm schien, dass die Zeit nur so raste, und die beiden Frauen wurden einfach nicht fertig, ständig suchten sie etwas und probierten mal diese, mal jene Bluse an, mal diesen, mal jenen Schmuck. Als würden sie sich für einen Empfang bei der amerikanischen Botschaft zurechtmachen. Endlich, Viertel vor zehn, schloss sich die Wohnungstür hinter ihnen, und Tschinzow atmete erleichtert auf. Jetzt konnte das Telefon klingeln.
* * *
Wjatscheslaw Jegorowitsch Solomatin konnte nicht begreifen, was mit ihm vor sich ging. Seine Arme und Beine wurden plötzlich bleischwer, sein ganzer Körper füllte sich mit dieser warmen, lähmenden Schwere, und Geräusche drangen nur noch wie durch Watte zu ihm.
»Was wollen Sie von Pawel?«, fragte ihn die nicht sehr hoch gewachsene, dunkelblonde Frau in der kurzen hellen Pelzjacke.
»Er kann helfen«, erwiderte er mit Mühe.
»Wem kann er helfen?«
»Dem Präsidenten.«
»Weiß der Präsident davon, dass er Hilfe braucht?«
»Nein. Aber ich weiß es. Ich will ihm helfen.«
»Und was hat das mit Pawel zu tun? Wieso glauben Sie, dass er Sie dabei unterstützen kann?«
»Ich weiß es nicht. . . Ich hoffe es. Außer ihm kann niemand helfen. Alle andern sind gekauft, bestochen . . .«
»Weiß Pawel etwas Kompromittierendes über Sie?«
»Nein, da gibt es nichts zu wissen. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.«
»Ist Pawel gefährlich für Sie?«
»Nein. Ich hoffe es nicht . . . Ich habe ihm nichts getan. Ich möchte nur, dass er mir hilft.«
»Sehen Sie mich, Wjatscheslaw Jegorowitsch?«
»Ja.«
»Wie sehe ich aus?«
»Sie tragen eine Pelzjacke . . . Sie sind klein, schlank und hellhaarig. Ihre Augen kann ich nicht sehen, es ist zu dunkel. . .«
»Sie irren sich«, erwiderte die Frau. »Ich bin groß und füllig. Ich habe kurzes, blond gefärbtes Haar. Ich trage Brillantohrringe, einen grünen wattierten Mantel und bin stark geschminkt. Sehen Sie es?«
»Ja, ich sehe es«, erwiderte Solomatin gehorsam.
In der Tat. Wie war er darauf gekommen, dass sie klein und schlank war? Vor ihm stand eine große, korpulente Frau, und sie trug einen grünen Mantel. In der Dunkelheit konnte er zwar nicht erkennen, wie ihre Ohrringe aussahen, aber er war sich sicher, dass es sich um Brillanten handelte. Etwas stimmte nicht mit seinen Augen. . .
»Pawel wird Sie morgen früh anrufen, dann können Sie alles mit ihm besprechen. Ich werde jetzt gehen, Sie werden noch ein paar Minuten hier stehen bleiben, dann können Sie nach Hause gehen. Und Sie werden sich an nichts erinnern, außer daran, dass ich mich mit Ihnen unterhalten und Ihnen versprochen habe, dass Pawel Sie anrufen wird. Nicht wahr, Wjatscheslaw Jegorowitsch?«
»So ist es«, murmelte er mit tauben Lippen.
Die Frau entfernte sich und verschwand in der Dunkelheit, sie löste sich förmlich in Luft auf. Solomatin blieb gehorsam stehen, in einer ihm selbst unverständlichen Erstarrung. Allmählich wurde ihm wieder etwas wohler, die Schwere wich aus seinem Körper, seine Arme und Beine begannen ihm wieder zu gehorchen. Was war los mit ihm? Was tat er hier eigentlich? Ach ja, er hatte mit einer Frau gesprochen, mit einer fülligen, stark geschminkten Blondine in einem grünen Mantel. Sie hatte ihm versprochen, dass Pawel ihn morgen anrufen würde. O mein Gott, durchfuhr es ihn plötzlich, woher weiß sie, dass ich ihn suche? Hat Wassilij etwa nicht dichtgehalten? Ich habe ihm doch ausdrücklich gesagt, dass er sich Sauljak nicht nähern und keinen Kontakt mit ihm aufnehmen darf. Und Wassilij schwört, dass Sauljak ihn nicht bemerkt hat. Auf dem Flughafen von
Weitere Kostenlose Bücher