Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
der Schwelle, die den Termin um vier Uhr gehabt hatte. Pawel stieg entschlossen die Treppe hinauf und betrat den dunklen Wohnungsflur.
»Michail Dawydowitsch«, rief er, »darf ich Sie auch ohne Termin sprechen?«
»Treten Sie ein«, erwiderte die bekannte Stimme aus dem unsichtbaren Inneren der Wohnung.
Pawel betrat ein kleines Zimmer und stellte mit Erleichterung fest, dass Michail zumindest nicht den Magier spielte. Keine Kerzen, keine Kreuze, keine Talismane und sonstigen Attribute, die den Patienten suggerieren sollten, dass der Hypnotiseur in Verbindung mit höheren Kräften und jenseitigen Welten stand. Michail saß hinter einem ganz gewöhnlichen Schreibtisch und trug einen ganz gewöhnlichen Anzug mit Hemd und Krawatte. Dennoch sah er nicht sehr solide aus, sondern glich eher einem Bohemien. Das gelockte Haar hing ihm bis auf die Schultern hinab, er trug eine getönte Brille, und der Bauchansatz war noch deutlicher zu sehen als früher.
»Pawel Dmitrijewitsch!«, rief er verdutzt aus.
»Überrascht?«, fragte Pawel grimmig. »Hast du gedacht, ich erfahre nichts von deinem freien Künstlerleben? Wahrscheinlich spricht ganz Moskau von dir, jedenfalls scheinst du guten Zulauf zu haben.«
»Aber nein, Pawel Dmitrijewitsch«, stammelte Michail, »so ist es wirklich nicht. Ich bin ein ganz gewöhnlicher Psychotherapeut, nichts weiter. Niemand weiß etwas, ich schwöre.«
»Und was für ein Psychotherapeut bist du? Einer, der böse Geister austreibt und Frauen die Rückkehr ihrer treulosen Liebhaber verspricht?«
»Aber nicht doch, nicht doch.« Michail fuchtelte hektisch mit den Armen. »Ich unterhalte mich einfach mit meinen Patienten und versuche, ihren Stress abzubauen. Ich rate ihnen, nicht auf das zu achten, was ihr Leben vergiftet. Kennen Sie das Prinzip? Wenn du die Situation, die dich belastet, nicht verändern kannst, dann verändere deine Einstellung zu ihr. Genau das versuche ich meinen Patienten beizubringen. Natürlich beeinflusse ich sie auch gegen ihren Willen, aber das merken sie ja nicht. Niemand weiß etwas, ich schwöre es. Versuchen Sie doch, sich in mich hineinzuversetzen, Pawel Dmitrijewitsch. Sie sind wortlos verschwunden, niemand wusste, für wie lange. Aber ich muss doch leben. Sollte ich bis an mein Lebensende dasitzen und Däumchen drehen?«
»Hör auf zu jammern, lass es gut sein. Ich bin zurück, wir müssen wieder arbeiten.«
»Aber ja, natürlich, Pawel Dmitrijewitsch«, murmelte Michail erfreut, der begriff, dass ihm verziehen war. »Ich bin bereit, ich habe diese Praxis ja nur eröffnet, um nicht aus der Übung zu kommen . . .«
»Du hättest dabei leicht ums Leben kommen können«, sagte Sauljak erbost. »Was hast du eigentlich im Kopf? Ich habe dich doch ausdrücklich gewarnt.«
Aber Pawels Wut war verraucht. Jetzt überlegte er nur noch, wie er Michail so optimal wie möglich einsetzen konnte.
* * *
Julia Tretjakowa war eine junge Journalistin. Natürlich träumte sie vom Ruhm, von sensationellen Enthüllungen und unerhörten Publikationen, von Interviews, die sie mit den wichtigsten und bekanntesten Leuten im Land und vielleicht in der ganzen Welt machen würde. Aber vorläufig bestand ihre Aufgabe darin, Material für die Rubrik »Letzte Meldungen vor Redaktionsschluss« zu sammeln.
Heute hatte in einer Behörde der Miliz ein Bekannter von ihr Dienst, und Julia wollte sich eine Weile in seiner Nähe herumtreiben, um bis siebzehn Uhr mit einigen Meldungen über Diebstähle und Raubüberfälle in die Redaktion zurückzukehren. Vielleicht hatte sie Glück, und es war sogar ein Mord dabei. Sie verließ ihr Büro und ging in Richtung Metro, als sie plötzlich ein imposanter, etwas fülliger Mann mit langen Haaren und einer getönten Brille ansprach.
»Entschuldigen Sie«, sagte der Fremde mit angenehmer Stimme, »hätten Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit für mich?«
Julia sah sich nervös um. Sie war noch nicht weit vom Redaktionsgebäude entfernt und konnte im Notfall schnell wieder zurücklaufen. Man konnte ja nie wissen . . . Aber eine Gelegenheit wie diese durfte man sich nicht entgehen lassen, womöglich erwartete sie Stoff für eine Sensationsmeldung . . .
»Worum geht es?«, fragte sie mit einem freundlichen Lächeln.
»Ich möchte Ihnen ein Angebot machen. Aber dieses Angebot ist von einer Art, dass ich während unseres Gesprächs nicht unbedingt von Ihren Kollegen gesehen werden möchte. Können wir uns vielleicht woanders unterhalten?«
Julia
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