Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
schwankte zwischen Neugier und Angst. Aber schließlich war sie Journalistin. Sie durfte keine Angst haben, wenn sie womöglich an eine heiße Geschichte herankommen konnte.
Der Mann visierte einen Hinterhof an, und Julia folgte ihm gehorsam. Im Hof ließen sie sich auf einer kleinen Bank nieder, die offenbar für Kinder bestimmt und zu niedrig für Erwachsene war.
»Ich möchte mich vorstellen«, begann der Mann. »Mein Name ist Grigorij. Und wie heißen Sie?«
»Ich heiße Julia. Also, Grigorij, worum geht es?«
»Wissen Sie, Julia, ich beobachte Sie schon seit einiger Zeit. Ich weiß, dass Sie Journalistin sind, und . . . ich kann etwas dafür tun, dass Ihr Name in Journalistenkreisen bekannt wird.«
»Besitzen Sie etwa brisantes Material?«, fragte Julia, die sofort Feuer und Flamme war.
»Bis jetzt noch nicht. Aber wenn Sie wollen, werden wir dieses Material bekommen.«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte das Mädchen stirnrunzelnd.
»Ich werde es Ihnen erklären. Ich habe die Möglichkeit, ein Interview von Ratnikow zu bekommen.«
»Wie bitte?« Julia blieb fast der Mund offen stehen vor Überraschung. »Nein, das glaube ich Ihnen nicht. Ratnikow lässt seit zwei Jahren keinen einzigen Journalisten mehr an sich heran. Seit er für den Präsidenten arbeitet, ist es niemandem mehr gelungen, ihn zu interviewen.«
»Eben«, sagte Grigorij mit einem bestechenden Lächeln. »Kein einziges Interview in zwei Jahren. Und in der Presse und im Fernsehen wird immer wieder erwähnt, dass Ratnikow es ablehnt, mit Journalisten zu sprechen. Können Sie sich vorstellen, was für ein Aufsehen es erregen wird, wenn der unzugängliche Ratnikow bei Ihnen eine Ausnahme macht?«
»Aber er wird diese Ausnahme doch nicht machen«, widersprach sie unsicher.
»Doch, er wird. Wenn Sie einverstanden sind, wird das Interview in drei Tagen in Ihrer Zeitung erscheinen. Wollen Sie?«
»Ich verstehe nicht. . . Nein, ich glaube Ihnen nicht.«
»Julia, ich frage nicht danach, ob Sie mir glauben oder nicht, ich frage nur, ob Sie wollen.«
»Du lieber Gott, natürlich will ich. Das ist doch keine Frage. Doch wie soll das gehen?«
»Das Interview werde ich mit ihm machen. Sie haben Recht, Sie wird er nicht empfangen, so, wie er niemanden von der journalistischen Zunft empfängt. Aber mir wird er dieses Interview geben. Und ich gebe die Kassette mit der Aufzeichnung unseres Gesprächs an Sie weiter. Sie veröffentlichen das Interview unter Ihrem Namen.«
»Aber das ist doch Betrug!«, empörte sich Julia. »Und es wird sofort herauskommen. Ratnikow wird die Zeitung zu Gesicht bekommen und sofort richtig stellen, dass er das Interview nicht einer Julia Tretjakowa gegeben hat, sondern einem Mann namens Grigorij.«
»Das lassen Sie bitte meine Sorge sein. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass nichts dergleichen passieren wird. Was meinen Sie, Julia? Entscheiden Sie sich.«
»Wozu soll das alles gut sein?«, fragte sie misstrauisch, während sie innerlich mit der Versuchung kämpfte, blindlings zuzustimmen.
»Ich möchte Ihnen etwas Gutes tun«, sagte Julias neuer Bekannter mit entwaffnendem Lächeln. Das ist der einzige Grund für mein Angebot.«
»Und wie kann ich sicher sein, dass die Stimme auf der Kassette wirklich die von Ratnikow sein wird? Woher weiß ich, dass Sie mich nicht betrügen?«
»Wenn Sie das befürchten, kann ich eine Videoaufnahme machen. Die Stimme von Ratnikow kennen Sie vielleicht nicht, aber sein Gesicht bestimmt.«
Julia schwirrte der Kopf. Sie brannte darauf, an das Material heranzukommen, das der Fremde ihr versprach. Das würde der erste Schritt auf dem Weg zum Ruhm für sie sein, sie würde von da an als Journalistin gelten, für die es keine verschlossenen Türen gab. Alle hatten bei Ratnikow bisher auf Granit gebissen, selbst die renommiertesten Journalisten, jedem war die Tür vor der Nase zugeschlagen worden, aber sie hätte es dann als Erste und Einzige geschafft! Trotzdem war das alles irgendwie unheimlich . . . Es kam so überraschend.
Aber plötzlich wurde Julia ganz klar im Kopf. Worüber dachte sie überhaupt nach? So eine Chance bekam man nur einmal im Leben, und man musste verrückt sein, um sie auszuschlagen.
»Ist in Ordnung«, sagte sie entschieden, »ich bin einverstanden.«
»Wunderbar. Ich werde übermorgen um die gleiche Zeit in diesem Hof auf Sie warten. Und Sie werden die Videokassette mit dem Interview von mir bekommen.«
»Und was werde ich Ihnen dafür schuldig sein?«
»Ich bitte
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