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Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers

Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers

Titel: Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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entspannter Haltung im Sessel hinter seinem Schreibtisch und erzählte, direkt in die Kamera blickend, von den Meinungsverschiedenheiten im direkten Umfeld des Präsidenten. Ab und zu stellte Michail ihm eine Frage, sodass auch seine Stimme auf das Band kam. Aber das war nicht weiter schlimm, diese Stellen konnte man mit der Stimme von Julia Tretjakowa überspielen, wenn es nötig werden sollte. Ins Bild konnte Michail nicht kommen, weil er mit der Kamera auf der Schulter vor Ratnikow stand.
    Das Interview war beendet. Michail stellte die Kamera ab, verstaute sie in der Tasche und trat dicht an den Berater des Präsidenten heran.
    »Wir haben gute Arbeit geleistet«, sagte er mit leiser, fast tonloser Stimme. »Und wenn Sie jemand fragen sollte, wem Sie dieses Interview gegeben haben, dann werden Sie sagen, dass ein junges Mädchen bei Ihnen war, ein sympathisches junges Mädchen namens Julia Tretjakowa. Ich lasse Ihnen ihre Visitenkarte da, damit Sie nicht vergessen, wie sie heißt und für welche Zeitung sie arbeitet. Und mich haben Sie nie gesehen. So ist es doch, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte Ratnikow mit gepresster Stimme.
    Seine Augen waren immer noch auf den Punkt gerichtet, wo bis vor kurzem das rote Licht der Videokamera geleuchtet hatte. Er befand sich im Zustand tiefer Hypnose, und es war ein Leichtes, die Erinnerung an das Gewesene in ihm zu löschen.
    »Auf Wiedersehen, Alexander Iwanowitsch«, sagte Michail. »Sie brauchen mich nicht hinauszubegleiten, ich finde den Ausgang allein. Sie werden hören, wie die Tür ins Schloss fällt, und dann wieder zu sich kommen. Und alles wird gut sein. Alles wird gut sein. Haben Sie mich verstanden?«
    »Ja.«
    »Dann verabschieden Sie sich jetzt von mir.«
    »Auf Wiedersehen . . . Julia.«
    Michail verließ das Zimmer und schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Es gelang ihm ohne Mühe, die Schlösser zu öffnen, mit denen die Tür von innen mehrfach gesichert war. Dann schlug er die Tür möglichst laut zu, damit Ratnikow das Signal empfing, das ihm befahl, aus der Trance zu erwachen.
    * * *
    Michail Dawydowitsch Larkin hatte seine ungewöhnliche Gabe schon in der Pubertät entdeckt. Sie erschreckte ihn nicht im Geringsten, er setzte sie vielmehr sofort dafür ein, gute Noten in der Schule zu bekommen. Auf dieselbe forsche Weise gelang ihm auch der Sprung auf die Technische Hochschule, denn jüdischen Knaben waren Anfang der siebziger Jahre die Türen zu den renommierten geisteswissenschaftlichen Universitäten verschlossen. In Physik und Mathematik war er schwach, aber seine Zensuren waren trotzdem nicht schlecht, und ohne Stipendium musste er auch nicht auskommen. Bei Prüfungen war es für ihn am wichtigsten, sich als Letzter einer Gruppe examinieren zu lassen, damit die Kommilitonen nicht hörten, was für einen Unsinn er faselte. So kam es, dass er schließlich trotz Diplom von nichts eine Ahnung hatte, und nachdem er eine Stelle in einem Konstruktionsbüro bekommen hatte, wurde das Leben endgültig öde. Die Vorgesetzten tadelten ihn ständig, die Kollegen zuckten verständnislos mit den Schultern, wenn sie seine dilettantischen Entwürfe sahen, ständig wurde er versetzt, weil jeder diesen Ballast loswerden und die Stelle mit einem besseren Ingenieur besetzen wollte. Hier nutzten auch seine außergewöhnlichen Fähigkeiten nichts, denn die technischen Geräte, die er konstruierte, reagierten nicht auf Hypnose, sie waren und blieben unbrauchbar.
    Schließlich aber hatte Michail doch Glück. Seine Mutter arbeitete als Kostümbildnerin an einem Theater, das oft zu Gastspielen ins Ausland reiste. Seine Mutter wurde als Jüdin auf diese Reisen nicht mitgenommen, es gab am Theater auch andere Kostümbildner, bei denen im Pass nicht das Wort Jude stand. Aber Iraida Isaakowna war eine echte Theaterseele, alle in der Truppe liebten sie, jeder teilte seine Freuden und Leiden mit ihr, jeder weinte sich an ihrer Schulter aus, sie kannte alle Gerüchte und Klatschgeschichten. Michail hielt sich von Kindheit an sehr gern bei seiner Mutter im Theater auf, das gelockte, pausbäckige kleine Engelchen wurde dort nach Strich und Faden verwöhnt, und mit acht Jahren spielte Michail sogar eine winzige Rolle in einem Stück. Auch als er erwachsen war, blieb er dem Theater verbunden, man freute sich immer, wenn er zu Besuch kam, denn Iraida Isaakowna, seine Mutter, war nach wie vor sehr beliebt, und man übertrug die Liebe und das Vertrauen zu ihr auch auf ihren Sohn, der genauso

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