Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
Sie, Julia«, rief Grigorij entrüstet aus. »Glauben Sie denn nicht an Uneigennützigkeit?«
»Dann danke ich Ihnen im Voraus«, sagte sie und erhob sich von der Bank. »Ich hoffe sehr, dass es nicht Ihre Absicht ist, mich täuschen und hereinlegen zu wollen.«
Sie gingen durch den Torbogen wieder auf die Straße hinaus. Julia bog zur Metrostation ab, ihr neuer Bekannter überquerte die Straße und stieg in einen bordeauxroten Volvo.
* * *
Vor einer so schwierigen Aufgabe wie jetzt hatte Michail schon lange nicht mehr gestanden. Er hatte Pawel zwar versichert, dass er in Form geblieben war, aber das, was ihm jetzt bevorstand, war etwas ganz anderes als die Arbeit mit hysterischen, ständig von Problemen geplagten Frauen, die in ihrem Unglück bereit waren, sofort alles zu glauben, was man ihnen suggerierte. Heute musste Michail stahlharten, abgebrühten Männern gegenübertreten, die nichts und niemandem glaubten und in jedem einen Feind witterten. Nachdem er seinen Wagen abgeschlossen und die große Kameratasche umgehängt hatte, atmete er tief durch, schloss für ein paar Sekunden die Augen und konzentrierte sich. Dann betrat er entschlossen das mehrstöckige Backsteingebäude in der Starokonjuschennaja-Gasse. Am Eingang befand sich keine Klingelanlage mit Nummerncode, was hier auch nicht nötig war, denn hinter der Tür stand ein breitschultriger, durchtrainierter Wächter, dessen Hüfte eine offene Revolvertasche zierte.
»Wohin?«, fragte er unwirsch und versperrte Michail den Weg.
Michail sah ihm tief in die Augen und zückte einen Journalistenausweis. »Julia Tretjakowa«, stand in Druckbuchstaben auf der kleinen Plastikkarte. Der Wächter war ein resoluter Kerl, Michail musste ihm einen starken Impuls nach dem andern senden, um seinen inneren Widerstand zu brechen. Endlich ergriff der Mann die ausgestreckte Karte.
»Ich muss Sie eintragen«, sagte er mit matter Stimme.
»Natürlich«, stimmte Michail zu.
Alles lief richtig. Sollte es zu einer Überprüfung kommen, würde im Besucherbuch der Name von Julia Tretjakowa stehen. Genau so war es geplant. Der Wächter machte den Eintrag und gab Michail die Karte zurück. Michail steckte sie ein und ging entschlossen zu den Lifts. Das erste Hindernis war überwunden. Jetzt musste er in Ratnikows Wohnung gelangen und ihn dazu bringen, das in die Kamera zu sprechen, was nötig war. Hatte er die Kraft dazu? Er musste sich zusammennehmen, musste die Angst bekämpfen.
Im Lift schloss er erneut die Augen und versuchte, sich zu sammeln. Die automatische Tür öffnete sich lautlos, Michail erblickte vor sich die Gestalt des unvermeidlichen Leibwächters. Im Gegensatz zu dem Mann am Eingang, der für die Sicherheit der gesamten Hausbewohner zuständig war, bewachte dieser nur noch den Präsidentenberater, der diese Etage des Hauses bewohnte. Diesmal musste Michail sehr viel mehr innere Kraft aufwenden, der Leibwächter stand wie angewurzelt vor dem Lift und trat keinen Schritt beiseite. Zum Glück machte er wenigstens keine Anstalten, Gewalt anzuwenden. Geh zur Seite, befahl Michail ihm innerlich, mach drei Schritte nach hinten, dreh dich um, geh zu Ratnikows Tür und drücke auf die Klingel. Wenn man dich fragt, wer da ist, dann lass sie deine Stimme hören. Geh zur Seite, dreh dich um und drücke auf die Türklingel. Geh zur Seite.
Der Leibwächter machte endlich gehorsam drei Schritte in Richtung Wohnungstür und klingelte. Eine Minute später unterhielt sich Michail bereits mit Ratnikows Frau, die sich als leichte Beute erwies, da sie nicht im Geringsten auf Widerstand eingestellt war. Mit einem freundlichen Lächeln bat sie Michail, ihr zu folgen, und ging voraus durch den langen Flur.
»Du hast Besuch«, sagte sie und öffnete vor Michail die Tür zu Ratnikows Arbeitszimmer.
»Wer sind Sie? Warum hat man Sie hereingelassen?«, fragte Ratnikow gereizt.
»Alexander Iwanowitsch«, begann Michail mit weicher, einschmeichelnder Stimme. . .
Er schwitzte vor Anstrengung, das lange Haar klebte ihm im Nacken fest. Bei Aufgaben wie diesen durfte er keine Brille tragen, damit die Impulse nicht blockiert und zerstreut wurden, deshalb verschwamm ihm jetzt alles, was mehr als drei Meter entfernt war, vor den Augen. Das war unangenehm, aber er ließ sich davon nicht ablenken, sondern konzentrierte sich mit aller Macht darauf, den Willen des Präsidentenberaters zu brechen.
Schon bald fühlte er, dass er die Situation völlig im Griff hatte. Ratnikow saß jetzt in
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