Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
abbiegen und einen halben Kilometer weiterfahren«, erklärte Pawel Rita. »Danach soll er anhalten, aussteigen und warten, bis er angesprochen wird.«
Rita stellte, wie immer, keine Fragen. Wenn der Mann aussteigen und warten sollte, dann hatte das seinen Grund. Pawel wusste, was er sagte.
»Soll ich sein Gedächtnis blockieren?«
»Unbedingt. Er soll niemandem von der Begegnung mit dir erzählen.«
Rita nickte gehorsam.
Sie passte ihn vor dem Haus seiner Geliebten ab. Es war besser, ihn hier zu treffen als vor seinem Büro, wo Bekannte und Kollegen sie hätten sehen können. Pawel saß nicht weit entfernt im Auto, er hatte einen Minisender bei sich, über den er das Gespräch mithören konnte.
»Entschuldigen Sie, darf ich Sie kurz sprechen?«, hörte er Rita mit freundlicher Stimme sagen. »Können wir uns vielleicht zu Ihnen ins Auto setzen?«
»Aber sehr gern«, erwiderte der Mann mit einer Stimme, die satt, träge und entgegenkommend klang. »Womit kann ich der schönen Unbekannten dienen?«
»Mit sehr vielem«, lachte Rita. »Als Erstes möchte ich, dass Sie mich genau ansehen.«
»Kenne ich Sie etwa? Sind wir uns schon einmal begegnet?«
»Sehen Sie mich erst einmal genau an, dann werde ich Ihnen alles erklären.«
Es entstand eine Pause, Rita sah dem Mann mit einem eindringlichen Blick in die Augen. Sie konnte ihren Gesprächspartner leicht in Trance versetzen, darin stand sie nicht einmal Michail Larkin nach. Ihre Schwäche bestand darin, dass sie nicht in der Lage war, einen Menschen dazu zu zwingen, bestimmte Grenzen zu überschreiten.
»Sie brauchen jetzt nicht ins Büro zurückzukehren«, hörte Pawel Rita sagen. »Ich werde jetzt wieder gehen, Sie fahren mit dem Auto in eine ruhige Seitenstraße und werden genau bis zehn vor sechs warten. Dann fahren Sie auf den Ring Sadowoje Kolzo und biegen auf dem Kolchos-Platz mit Höchstgeschwindigkeit in die Sretenskaja-Straße ab. Dort fahren Sie noch genau einen halben Kilometer, dann halten Sie an und steigen aus. Dort wird man Sie ansprechen und Ihnen sagen, was Sie zu tun haben . . .«
Nach einigen Minuten stieg Rita wieder zu Pawel ins Auto. Diesmal war ihre keine Erschöpfung anzumerken, die Arbeit mit diesem Objekt hatte ihr keinerlei Schwierigkeiten bereitet.
»Lass uns fahren, Kindchen«, sagte Pawel zärtlich. »Ich bringe dich nach Hause.«
»Und du?«
»Ich habe noch zu tun. Ruh dich aus, und abends komme ich zu dir.«
Gegen sechs Uhr bezog Pawel Posten an der Metro-Station Kolchosnaja. Eine Viertelstunde später bog ein funkelnagelneuer BMW mit Höchstgeschwindigkeit in die Sretenskaja-Straße ab, und gleich darauf hörte man einen ohrenbetäubenden Knall, das Krachen und Splittern von Glas und Metall. Die Sretenskaja-Straße war eine Einbahnstraße, der Zusammenstoß war unvermeidlich gewesen. Aber davon hatte Rita nichts gewusst.
ACHTES KAPITEL
Der Präsident bildete schließlich doch zwei Kommissionen, die Vorschläge zur Lösung der Tschetschenienkrise erarbeiten sollten, und Solomatin freute sich seiner weisen Voraussicht. Pawel hatte versprochen, alles dafür zu tun, dass der Präsident seine ganz persönliche Entscheidung treffen würde. Er war noch nicht höchstselbst bei Solomatin erschienen, aber er hatte ihn angerufen.
»Ich kann Ihre Sorgen und Motive nachvollziehen«, hatte er gesagt. »Ich verstehe wenig von Politik, zumal ich zwei Jahre lang praktisch von der Welt abgeschnitten war. Aber ich bin ein Mensch, der Stabilität und Gewohnheiten schätzt. Ich bin zufrieden mit der Politik des jetzigen Präsidenten und sehne mich nicht nach Veränderungen. Deshalb bin ich bereit, Ihnen zu helfen, damit alles bleibt, wie es ist.«
Solomatin war zufrieden mit Sauljaks Versprechen und verzichtete darauf, ihn in seine wahren Motive und wirklichen Sorgen einzuweihen.
Solomatins Tragödie bestand darin, dass der Präsident, den er schon seit seiner Jugend kannte und über die Maßen verehrte, ihn niemals wahrgenommen und als seinen treuesten Gefolgsmann erkannt hatte.
Im Windschatten des Präsidenten war Solomatin zu großem Wohlstand und Einfluss gekommen, aber dafür hatte er auch viele persönliche Opfer gebracht. Und seinem sehnlichsten Wunsch, die Achtung und Freundschaft seines Idols zu gewinnen, war er kein noch so kleines Stückchen näher gekommen.
Sein ganzes Leben lang hatte Wjatscheslaw Jegorowitsch Solomatin seinem Idol ergeben gedient, aber nach fünfundvierzig Jahren war plötzlich der Ehrgeiz in ihm erwacht.
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