Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
sechs, mitten im Winter? Ich bin zwar verrückt, aber so verrückt nun auch wieder nicht.«
»Warum denn nicht?«, entgegnete Ljoscha ungerührt. »Es ist schön frisch draußen, leere Straßen, alle schlafen noch, selbst die Hunde werden jetzt noch nicht ausgeführt. Die pure Romantik. Wir gehen ein Stündchen spazieren, danach frühstücken wir mit gesundem Appetit und gehen mit frischen Köpfen an die Arbeit. Ich muss einen Vortrag vorbereiten. Und was hast du zu tun?«
»Was soll ich schon zu tun haben, Ljoscha! Bei mir regnet es Leichen, wie immer, Leichen in jeder Ausführung und für jeden Geschmack.«
»Wirst du den Computer brauchen?«
»Heute nicht. Höchstens morgen. Heute muss ich Unterlagen durchsehen, nachdenken und noch mal nachdenken.«
»Dann sollten wir erst recht spazieren gehen. Komm, Nastja, zieh dich an, überleg nicht lange.«
Wahrscheinlich hat er Recht, dachte Nastja, während sie sich lustlos erhob und anzukleiden begann. Es ist gar nicht schlecht, an die frische Luft zu gehen, während es draußen noch dunkel, still und menschenleer ist, wenn man von nichts abgelenkt und bedrängt wird.
Nach einer Stunde kehrten sie nach Hause zurück. Nastjas Stimmung hatte sich deutlich verbessert, sie verschlang zum Frühstück mit großem Appetit die Reste des Festessens vom Vortag und stellte dann enttäuscht fest, dass ihr die Augen wieder zufielen. Um nicht im Sitzen einzuschlafen, räumte sie schnell den Küchentisch ab und breitete die Unterlagen darauf aus, die sie aus dem Büro mitgebracht hatte.
Bis etwa zehn Uhr war es völlig still in der Wohnung, man hörte nur das leise Klappern von Tasten. Ljoscha saß am Computer und arbeitete an seinem Vortrag. Nastja war es gelungen, sich zu konzentrieren, eifrig verglich sie Fakten und unterschiedliche Zeugenaussagen miteinander. Dann unterbrach das Läuten des Telefons die himmlische Ruhe.
»Nastja, du hörst und siehst natürlich nach wie vor keine Nachrichten«, hörte sie Oberst Gordejew sagen.
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte sie.
»Das solltest du aber tun. In St. Petersburg hat sich jemand erschossen. Ich vermute, das wird dich interessieren.«
»Wer denn?«
»Ein gewisser Gleb Armenakowitsch Mchitarow.«
»Wer soll denn das sein?«
»Nastja, deine politische Uninformiertheit grenzt an Analphabetentum. So geht das einfach nicht. Ich weiß, du hast deine Prinzipien, aber das geht zu weit. Dieser Mchitarow gehört zur Anhängerschaft des Präsidentschaftskandidaten Malkow. Hast du wenigstens diesen Namen schon einmal gehört?«
»Ja, den ich habe ich schon mal gehört.«
»Und dieser Mann von der Staatsanwaltschaft, den der Geistesgestörte auf der Straße erschossen hat, gehört ebenfalls zu Malkows Anhängerschaft. Klingelt es?«
»Nicht schlecht«, sagte Nastja mit einem Pfiff durch die Zähne. »Hat man die Jagd auf die Rivalen des Präsidenten eröffnet?«
»Es sieht so aus. Aber mit Mchitarow ist alles nicht so einfach. Er hat sich offenbar tatsächlich selbst erschossen. Morgen werden wir Genaueres wissen, aber bis jetzt gibt es keinerlei Anzeichen für einen Mord. In einer Stunde werde ich eine Liste mit den Namen der wichtigsten Gefolgsleute von Malkow auf dem Tisch haben. Diese Stunde muss dir reichen, um ins Büro zu kommen. Hast du alles verstanden?«
»Ich habe verstanden.«
Sie warf den Hörer auf die Gabel und zog sich ihre Jacke an.
* * *
In der Metro war es warm und fast menschenleer. Nastja setzte sich in eine Ecke und spürte plötzlich, wie müde sie war. Das kommt davon, wenn man die Nacht zum Tage macht, dachte sie träge und kämpfte mit aller Macht gegen den Schlaf an, der sie übermannen wollte. Nachdem sie an der Station Tschechowskaja ausgestiegen war, fühlte sie sich plötzlich so schwach, dass sie ins nächstbeste Cafe ging und eine Tasse Kaffee trank. Danach wurde es besser. Als sie endlich die Petrowka erreicht hatte, waren ihre Lebensgeister wieder vollständig zurückgekehrt.
Nastja schloss ihr Büro auf, legte ab und ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie sich auf die bevorstehende Arbeit freute. Jura Korotkow hatte Recht, wenn er sagte, dass die Arbeit an einem ungelösten Fall für sie süßer war als jedes Bonbon.
Kaum war ihr Korotkow eingefallen, als dieser auch schon höchstpersönlich erschien. Auch er kam am Samstag gern ins Büro, ebenso wie Nastja, nur hatte er andere Gründe dafür. Er war nicht gern zu Hause bei seiner Frau.
»Hat Knüppelchen dich angerufen?«, fragte
Weitere Kostenlose Bücher