Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
ganz anderes.«
»Was ist eigentlich los dort draußen«, ertönte Alexejs Stimme aus der Küche. »Wollt ihr ewig so im Flur stehen und die Familiendramen der Kamenskijs diskutieren? Wollen wir uns nicht endlich an den Tisch setzen?«
Alexej kochte hervorragend, die Getränke, die zum Essen gereicht wurden, waren ebenfalls ausgezeichnet, und schon nach einer Viertelstunde herrschte eine entspannte, fröhliche Atmosphäre. Nastja bemerkte allerdings, dass Dascha sehr zurückhaltend aß, dass sie jedes Mal zu überlegen und zu zögern schien, bevor sie sich etwas auf den Teller legte. Die alkoholischen Getränke rührte sie überhaupt nicht an, obwohl sie mit den anderen das Glas hob und anstieß.
»Dascha!«, sagte Nastja streng. »Was ist mit dir los? Machst du etwa eine Diät?«
»Nein«, murmelte Dascha irritiert und sah aus irgendeinem Grund zur Seite.
»Warum isst du dann so wenig? Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass du nicht abnehmen darfst, solange du dein Kind stillst.«
»Ich stille nicht«, sagte Dascha, diesmal noch leiser. »Schon seit zwei Monaten nicht mehr.«
»Wie bitte? Willst du damit sagen, dass . . .«
Dascha nickte und errötete.
»Du bist verrückt geworden!«, meinte Nastja entsetzt. »Sascha ist erst acht Monate alt. Wie willst du das schaffen mit zwei so kleinen Kindern? Was geht bloß vor in deinem Kopf!«
»Ich schaffe es«, sagte Dascha mit einem freudigen Lächeln. »Da kannst du ganz sicher sein. Und dein Kind ziehe ich auch noch auf, wenn es so weit ist. Du würdest doch nie im Leben deine Arbeit aufgeben, während ich sowieso den ganzen Tag zu Hause sitze. Schimpf nicht mit mir. Ich wünsche mir so sehr eine kleine Nastja.«
»Dabei wird es doch nicht bleiben, erzähl mir nichts. Anschließend wirst du einen kleinen Alexej wollen, das hast du ja bereits angedeutet. Und danach noch irgendjemanden. Weiß Sascha es schon?«
»Natürlich. Er hat es sogar als Erster gewusst.«
»Wie meinst du das? Er kann es schließlich nicht vor dir selbst gewusst haben, oder?«
»Doch, stell dir vor, er hat es sogar vor mir selbst gewusst. Eines Morgens wacht er auf, schaut mich an und sagt: Dascha, ich glaube, wir werden eine kleine Nastja haben. Zuerst habe ich es nicht geglaubt, ich dachte, er macht einen Witz. Aber ein paar Tage später wurde mir klar, dass er Recht hatte. Verrückt, was?«
»Ja, verrückt«, stimmte Nastja zu. »Dascha, du bist ein tolles Mädchen. Ich beglückwünsche dich, und Sascha natürlich auch.«
Die beiden Frauen unterhielten sich leise über dies und das, während die Männer laut und heftig über die Chancen der Präsidentschaftskandidaten bei den bevorstehenden Wahlen diskutierten. In Daschas Anwesenheit überkam Nastja gewöhnlich ein stilles, friedliches Gefühl. Aber heute wollte sich dieses Gefühl nicht einstellen. Die Unruhe, die seit der Begegnung mit Pawel Sauljak in ihr war, ließ nicht nach, etwas nagte ständig an ihr, und sie konnte nichts dagegen tun.
* * *
Ihr Leben lang hatten sie drei Träume verfolgt. Den einen, in dem sie starb, träumte sie, wenn etwas mit ihrem Herzen oder Blutdruck nicht in Ordnung war. Im zweiten Traum stand sie auf einer hohen Felsenklippe und wusste, dass sie im nächsten Moment in die Tiefe stürzen würde, weil sie nicht von dem Felsen hinabsteigen konnte. Aber dann kam ihr der rettende Gedanke. Auf irgendeine Weise war sie auf den Felsen hinaufgekommen, und deshalb musste es möglich sein, dass sie auf demselben Weg auch wieder hinunterkam.
Auch der dritte Traum war bedrückend. Nastja machte ihren Schulabschluss und wusste, dass sie einen Teil der Prüfungen nicht bestehen würde. Sie hatte zusammen mit Alexej eine Schule mit den Schwerpunkten Mathematik und Physik besucht, aber seltsamerweise träumte sie, dass sie ausgerechnet in Mathematik und Physik versagen würde, da sie in beiden Fächern seit der sechsten Klasse nie mehr etwas gemacht hatte. Schreckliche Schuldgefühle überfielen sie im Traum. Sie hatte die ganzen Jahre verbummelt, sie hatte alles falsch gemacht, und jetzt musste sie dafür bezahlen. Verzweifelt suchte sie nach einem Ausweg, aber schließlich begriff sie, dass es keinen Ausweg gab, dass es zu spät war. Die Verzweiflung, die sie im Traum überfiel, war so abgrundtief, dass sie sich mit aller Gewalt zwang, endlich aufzuwachen.
Genau dieser Traum hatte sie auch in dieser Nacht wieder heimgesucht. Sie erwachte, schlüpfte leise aus dem Bett, um Alexej nicht zu wecken, und
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