Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
Wahrscheinlich bin ich verrückt geworden.
»Siehst du«, sagte die Ärztin, während sie das Gesprächsprotokoll wieder in die Mappe zurücklegte. »Er hat keine Erklärung für sein Verhalten, er hält das, was vorgefallen ist, nicht für normal. Mehr noch, er denkt, dass er verrückt geworden ist. Und das ist ein deutliches Anzeichen geistiger Gesundheit. Ein Geisteskranker hält sich nicht für krank, das ist sein größtes Problem.«
»Du meinst also, dass Basanow nicht zu den geisteskranken Tätern gehört?«
»Keinesfalls«, erwiderte die Ärztin. »Ich verstehe nicht, was ihm widerfahren ist. Ich halte es für möglich, dass er einfach lügt, dass er ein Simulant ist. Vielleicht hat man ihn für den Mord angeheuert und ihm geraten, den Verrückten zu spielen, falls er gefasst werden sollte. Aber an diese Version glaube ich, ehrlich gesagt, nicht, Nastja. Wenn einer einen Auftragsmord begeht, hat er, wenn er gefasst wird, immerhin noch eine Chance. So hoch die Strafe auch sein mag, irgendwann kommt jeder frei. Und Basanow hätte aufgrund seiner Oligophrenie sowieso nicht die Höchststrafe bekommen. Aber ein geisteskranker Mörder kommt automatisch in die Psychiatrie, und das für immer. Aus der Psychiatrie wird er nie mehr entlassen, das ist hinlänglich bekannt. Und falls doch, dann als geistiges und körperliches Wrack. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mensch sich dem freiwillig ausliefert. So schrecklich es im Straflager auch sein mag, es ist immerhin noch Leben. Aber in den Kliniken für geisteskranke Verbrecher gibt es kein Leben. Nur endloses Grauen und Leiden. Und schließlich, wenn die Medikamente ihr Werk getan haben, nur noch völlige Gleichgültigkeit und dumpfes Dahinvegetieren.«
Der vierundzwanzigjährige Kyrill Basanow hatte eine Sonderschule für geistig zurückgebliebene Kinder besucht. Bei der Armee hatte man ihn dennoch mit Freuden genommen. Er war gutmütig, fügsam und diszipliniert. So jemanden ließ man sich dort nicht entgehen. Manchmal bekam er zwar unkontrollierte Wutanfälle, aber er war nachgiebig und beruhigte sich genauso schnell, wie er aufbrauste. Er war außerordentlich empfänglich und beeinflussbar, wie fast alle Menschen mit Neigung zu Debilität. Nach dem Armeedienst wurde er Hilfsarbeiter in einer Schuhfabrik, zu mehr reichte es nicht bei ihm, und natürlich besaß einer wie er nicht im Geringsten das Zeug zum Killer.
Nastja Kamenskaja verließ die Klinik für Gerichtspsychiatrie in völliger Verwirrung. Der Mord an dem Beamten der Generalstaatsanwaltschaft schien sich mehr und mehr als Zufall zu entpuppen. Aber wenn der Mord an Lutschenkow ein Unglücksfall war, dann musste auch der Mord an Malkow, der aus völlig unerfindlichen Gründen von seiner drogenabhängigen Tochter erschossen wurde, unter diesem Blickwinkel betrachtet werden. Und was folgte daraus? Jurzew und Mchitarow hatten sich das Leben genommen, der Abgeordnete Isotow hatte einen Mordanschlag auf seine Frau begangen, der Geschäftemacher Semjonow war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Unter dem Strich folgte aus alledem nichts, buchstäblich gar nichts. Es gab keine Parallelen zwischen den Todesfällen, keine Zusammenhänge, jeder stand für sich, jedes der Opfer hatte ein eigenes, von den anderen völlig unabhängiges Schicksal und einen eigenen Tod.
Allerdings war da noch etwas. Die zwei Männer, die man im Haus von Mchitarow gesehen hatte. Man wusste zwar immer noch nicht mit Sicherheit, bei wem sie gewesen waren, aber wahrscheinlich eben doch bei Mchitarow. Gleb Armenakowitsch hatte sich umgebracht, und gleich darauf waren die beiden Männer ermordet worden. Wenn es auch hier keinen Zusammenhang gibt, dachte Nastja Kamenskaja, dann soll mich auf der Stelle der Schlag treffen.
* * *
Rita war wieder allein, aber diesmal fühlte sie sich nicht so unglücklich und verlassen wie früher. Diesmal war alles anders.
Zwar hatte Pawel gesagt, dass sie sich eine Weile nicht sehen würden, aber erstens würde diese Trennung keine zwei Jahre dauern, sondern höchstens einen Monat. Und zweitens würde Pawel zu ihr zurückkommen, anders konnte es gar nicht sein, denn sie liebten einander.
»Fährst du wieder weg?«, hatte Rita traurig gefragt.
»Nein, Kindchen, ich werde hier sein, in der Nähe. Wir dürfen uns einfach nur eine Weile nicht sehen. Ich habe etwas sehr Wichtiges zu erledigen, und bis dahin werde ich dich nicht mehr besuchen. Dafür werden wir uns danach nie mehr trennen.
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