Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
setzte Nastja hinzu. »Bestimmt hatten sie wieder ein Schlafwagenabteil im ›Roten Pfeil‹.«
»Gern«, stimmte Vera bereitwillig zu. »Geben Sie mir die Fotos mit, damit ich sie meinen Kollegen zeigen kann?«
»Nein, Vera, die Fotos dürfen Sie Ihren Kollegen nicht zeigen. Nicht alle sind schließlich so mutig wie Sie«, schmeichelte ihr Korotkow. »Sie würden beim Anblick der Leichen erschrecken. Sie dürfen niemandem erzählen, dass die Männer ermordet wurden, beschreiben Sie die beiden einfach nur. Abgemacht? Und wenn jemand sie gesehen hat, dann soll er unbedingt bei uns anrufen, entweder Anastasija oder mich. Ich werde Ihnen meine Telefonnummer auch geben.«
Nachdem Vera gegangen war, setzte Korotkow sich sofort auf ihren Platz hinter Nastjas Schreibtisch.
»Also, hör zu, Nastja. Der Tote ist unser gesuchter Garik Robertowitsch Asaturjan, ein kleiner Schieber mit großen Geschäftsaktivitäten. Ledig, wohnhaft in der Podbelskaja-Straße. Die Leiche wurde heute im Bezirk von Chimki gefunden. Der Tod ist gestern am späten Abend eingetreten.«
»Todesursache?«
»Rate mal. Du bist doch die Gescheiteste von uns allen.«
Nastja überlegte. Eine Schusswunde – das wäre jetzt die einfachste Antwort gewesen. Wenn man davon ausging, dass die beiden Morde nichts miteinander zu tun hatten, dann wäre das vermutlich auch die einzig richtige Antwort gewesen. Aber wenn da ein und derselbe Täter am Werk war und wenn es sich um einen Profi handelte, dann hatte er bei seinem zweiten Mord eine andere Methode gewählt, um zu verhindern, dass irgendwelche superschlauen Bullen auf die Idee kamen, die beiden Morde miteinander in Verbindung zubringen. Eine Stichwaffe? Das war möglich, aber unwahrscheinlich. Profis mochten keine Stichwaffen. Das hinterließ meistens Blutspuren auf der Kleidung und an den Händen, das war viel zu riskant. Ein Schlag mit einem schweren Gegenstand auf den Schädel? Das konnte durchaus sein. Aber zu einem Profi passte auch das nicht.
»Hatte Asaturjan ein Auto?«, fragte sie unvermittelt.
»Nicht zu fassen!«
Korotkow fiel fast das Kinn herunter vor Verblüffung.
»Wie bist du darauf gekommen?«
»Worauf?«
»Auf das Auto.«
»Ich habe bis jetzt nur gefragt. Wo ist das Auto?«
»Am Tatort.«
»Alles klar. Wie oft hat das Auto ihn überfahren?«
»Anscheinend zweimal. Einmal vorwärts und einmal rückwärts. Nein, wirklich, Nastja, wie bist du darauf gekommen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie mit einem Schulterzucken. »Wahrscheinlich zufällig. Wie kommt es, dass Asaturjan sich von seinem eigenen Auto überfahren ließ? War er bewusstlos?«
»Die Obduktion wird es zeigen. Nur gut, dass ich rechtzeitig daran gedacht habe, den Gerichtsmedizinern zusammen mit der Leiche eine Flasche zu präsentieren, damit wir gleich drankommen. Die Jungs dort sind völlig überlastet, sie schaffen es einfach nicht mehr. Wie sich die Zeiten doch verändert haben! Früher standen die Lebenden um finnische Stiefel und Räucherwurst an, jetzt bilden sich Schlangen von Toten, die auf ihre Obduktion warten. Wird dir eigentlich nie unheimlich, Nastja? Ich habe manchmal das Gefühl, dass unser Leben sich nach und nach in einen Albtraum verwandelt. Der Übergang ist so fließend, dass es gar nicht auffällt. Unmerklich passt man sich an und nimmt die Veränderung kaum wahr. Aber dann erinnert man sich plötzlich, wie es noch vor ganz kurzer Zeit war, noch vor ein paar Jahren, und dann packt einen das Grauen. Was haben wir nur aus unserem Leben gemacht! Du beschäftigst dich doch ständig mit Statistik, dir muss es doch auffallen.«
»Natürlich fällt es mir auf. In den Zeiten, von denen du sprichst, wurden in Moskau durchschnittlich drei, vier Morde pro Woche begangen. Heute sind es vier bis fünf pro Tag, manchmal auch sieben oder acht. Kein Wunder, dass niemand mehr nachkommt. Aber wenn wir hier sitzen und jammern, hilft uns das auch nicht weiter.«
»Klar«, brummte Korotkow, »das habe ich mir gedacht. Kann man sich mit dir eigentlich nie über das Leben unterhalten, ein bisschen philosophieren? Hast du immer nur die Praxis im Kopf? Was hast du denn jetzt schon wieder vor mit mir?«
»Erstens müssen wir uns dringend mit dem Untersuchungsführer unterhalten. Hast du übrigens schon Gordejew Bescheid gesagt? Weiß er, dass Asaturjan tot ist?«
»Keine Sorge, ich bin ja nicht auf den Kopf gefallen. Den Fall übernimmt Olschanskij.«
»Zweitens müssen wir uns Garik Robertowitschs Notizbuch
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