Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
Abgemacht?«
Pawel hatte fröhlich gelächelt, aber Rita hatte gefühlt, wie konzentriert und angespannt er war. Sie bemerkte immer sofort, was mit ihm vor sich ging, wie er sich fühlte und in welcher Stimmung er war.
Für Rita hatte wieder der gewohnte Alltag begonnen. Sie machte ihren Schichtdienst in der Sparkasse und wartete auf Pawels Rückkehr. Das war alles.
An diesem Tag hatte Rita morgens zu arbeiten begonnen. Auf dem Heimweg kaufte sie rasch etwas ein, griff nach dem Nächstbesten im Regal und eilte im Laufschritt nach Hause. Sie dachte ununterbrochen an Pawel, nahm ihre Umwelt kaum noch wahr, immerzu schwelgte sie in der Erinnerung an die zwei Wochen, in denen sie sich so zärtlich und leidenschaftlich geliebt hatten. Sie bemerkte nicht, dass der Schlüssel in ihrer Wohnungstür klemmte und das Schloss ein unangenehmes, knirschendes Geräusch von sich gab, als der Schlüssel sich doch endlich drehte. Ein erfahrener, vorsichtiger Mensch hätte daran sofort erkannt, dass die Tür von einem fremden Schlüssel oder von einem Dietrich geöffnet worden und dass das Schloss beschädigt war. Theoretisch wusste Rita das zwar auch, aber sie befand sich nicht in einer Verfassung, in der man so etwas bemerkte und Vorsichtsmaßnahmen traf. Sie öffnete die Tür und betrat ihre Wohnung. Im nächsten Augenblick tauchte ein Schatten neben ihr auf, etwas umfasste ihren Hals, sie rang nach Luft. Ritas Hände öffneten sich, die Tüte mit den Lebensmitteln fiel zu Boden. Es dauerte nicht lange, bis die Funktionen des von der Sauerstoffzufuhr abgeschnittenen Gehirns aussetzten.
Der Mann legte den erstorbenen Körper der jungen Frau vorsichtig auf den Fußboden, öffnete ihre Handtasche und entnahm ihr mit einer behandschuhten Hand ein kleines Fläschchen Parfüm. Dann öffnete er vorsichtig die Tür zum Treppenhaus. Die Uhrzeit war günstig, die Bewohner des Hauses waren entweder zur Arbeit oder standen am Küchenherd und bereiteten das Mittagessen zu. Der Mann wandte sich abrupt um, öffnete, auf der Türschwelle stehend, das Parfümfläschchen und verspritzte seinen Inhalt rasch auf dem Boden des Flurs, an der Stelle, wo er eben gestanden hatte. Als das Parfümfläschchen leer war, zog er die Tür leise ins Schloss, lief schnell die Treppe hinunter und verschwand.
* * *
Nastja und Jura Korotkow grasten die ganze Stadt nach Asaturjans Bekannten ab, die sie nach einem hoch gewachsenen, etwa fünfzigjährigen Mann mit grauen Haaren und funkelnden schwarzen Augen fragten. Aber niemand von ihnen hatte Garik jemals in Gesellschaft eines solchen Mannes gesehen.
»Das soll ein Mensch verstehen!«, sagte Korotkow unmutig. »Der Zugbegleiterin haben sie gesagt, dass sie seit Jahren gemeinsam verreisen. Wie kann es dann möglich sein, dass ihn niemand aus Asaturjans Umgebung kennt?«
»Das war gelogen«, winkte Nastja ab. »Die haben der Zugbegleiterin einen Bären aufgebunden.«
»Aber wozu?«, wunderte sich Korotkow. »Ich sehe darin keine Logik, Nastja. Wenn Menschen nicht zugeben wollen, dass sie sich gut kennen, dann hat das einen Grund. Es soll nicht herauskommen, dass Absprachen zwischen ihnen bestehen, dass sie Komplizen sind. Aber umgekehrt? So etwas ist mir noch nicht untergekommen. Erinnere dich daran, wie viele Fälle wir gelöst haben, nachdem sich herausgestellt hatte, dass Leute, die so taten, als würden sie sich nicht kennen, doch sehr gut miteinander bekannt waren.«
»Und doch ist es so«, erklärte Nastja geduldig. »Sie geben sich als alte Freunde aus, die zudem beruflich Zusammenarbeiten, denn wenn man sie unter diesen Vorzeichen sucht, wird man sie niemals finden. In Wirklichkeit haben sie sich in diesem Zugabteil vielleicht zum ersten Mal gesehen. Oder zum zweiten Mal.«
Jura wollte widersprechen, aber er kam nicht mehr dazu. Sie waren nach einer ihrer erfolglosen Visiten bei Bekannten von Asaturjan in die Petrowka zurückgekehrt und gingen gerade durch den langen Flur, als Kolja Selujanow auf sie zugestürzt kam.
»Da seid ihr ja endlich, ich habe euch schon überall gesucht. Wir müssen dringend zu Knüppelchen.«
Jura und Nastja beschleunigten ihren Schritt, und schon nach einigen Sekunden standen sie vor ihrem Chef, dessen Glatze rot angelaufen war vor Wut. Mischa Dozenko, ein sympathischer, hoch gewachsener junger Mann, saß in völliger Verwirrung am Konferenztisch. Viktor Alexejewitsch nickte den Eintretenden zu.
»Setzt euch«, befahl er. »Mischa habe ich bereits beglückwünscht, jetzt
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