Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
dich beschwert, dass die Gerichtsmediziner nicht anrufen. Jetzt ist alles klar. Man hat in Asaturjans Blut und Lunge Spuren von Gas mit nervenlähmender Wirkung entdeckt.«
»Genau«, rief Nastja aus und wäre dabei fast vom Stuhl aufgesprungen. »Ich habe es geahnt. Man hat mit einer Gaspistole auf ihn geschossen, direkt ins Gesicht. Danach hat sich der Täter ins Auto gesetzt und den Bewusstlosen seelenruhig überfahren. Anschließend ließ er das Auto einfach stehen und machte sich davon. Kein Lärm, kein Blut. Sauber und akkurat. Lieber Gott, was für eine Kreatur muss das sein. Diese Visage würde ich ja nur zu gern einmal sehen.«
»Du solltest lieber auf deinen Wasserkocher aufpassen«, riet Korotkow.
Nastja schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Das Wasser sprudelte bereits über den Rand der hohen Keramikkanne. Nastja zog schnell den Stecker aus der Steckdose, aber für zwei Tassen Kaffee reichte das Wasser nicht mehr.
»Das ist für dich«, sagte sie großmütig. »Ich setze gleich noch einmal Wasser auf. Was bin ich nur für ein Tölpel.«
»Trink nur, trink«, lachte Jura. »Du kommst doch um ohne Kaffee. Ich kann noch etwas warten.«
Die beiden hatten ein sehr freundschaftliches Verhältnis, obwohl sie sehr unterschiedlich waren, aber vielleicht verstanden sie sich gerade deshalb so gut. Jura war leicht entflammbar, Nastja hingegen kühl und gelassen. Korotkow verlor leicht den Mut, gewann ihn aber ebenso schnell wieder, krempelte die Ärmel hoch und ging wieder an die Arbeit. Nastja nahm Niederlagen klaglos hin, analysierte sie gründlich, ging ihren Fehlern auf den Grund und lernte aus ihnen. Um sie zur Verzweiflung zu bringen, bedurfte es vieler Misserfolge gleichzeitig. Aber wenn sie wirklich schwach wurde, dann verfiel sie ernsthaft und lange in Depressionen, gegen die kein Kraut gewachsen war. Da halfen keine freudigen Überraschungen, kein Trost und kein gutes Zureden. Sie war still und bedrückt, brach wegen jeder Kleinigkeit in Tränen aus, und wenn sie sprach, dann so leise und monoton, als würde sie einen fertigen Text vorlesen. Es gab nur ein einziges Mittel gegen ihre Depression. Sie musste begreifen, dass ihr Zustand sowohl sie selbst als auch andere an der Arbeit hinderte. Sobald sie das erkannte, gab sie sich einen Ruck. Genug, Kamenskaja, sagte sie sich, nimm dich zusammen und arbeite. Sie atmete tief ein und hielt die Luft an, worauf ihre Tränen auf wundersame Weise versiegten, sie begann wieder lebhaft und ausdrucksvoll zu sprechen, und das, was sie eben noch bedrückt hatte, erschien ihr nebensächlich und beinah komisch. Natürlich dauerte der Kampf mit der Depression länger als ein paar Minuten. Manchmal brauchte Nastja Stunden dafür. Aber es gelang ihr immer nur aus eigener Kraft, das Tief zu überwinden, von außen konnte ihr dabei nichts und niemand helfen.
Nastja und Jura waren so aufeinander eingespielt, dass sie manchmal sogar dasselbe dachten. Sie tranken schweigend Kaffee, jeder vertieft in seine eigenen Gedanken, aber als Jura das Schweigen brach, vollendete Nastja sofort den von ihm begonnenen Satz.
»Asaturjan hatte sein Notizbuch bei sich . . .«, begann Korotkow.
»Und der andere hatte aus irgendeinem Grund überhaupt nichts bei sich. Leere Taschen. Nur ein Geldbeutel. Jura, du bist doch ein Mann, sag mir, ob es sein kann, dass er tatsächlich nur mit dem Geldbeutel in der Tasche aus dem Haus gegangen ist. Bei einer Frau wäre das undenkbar. Wie ist das bei den Männern?«
»Ganz genauso«, lachte Korotkow. »Wer geht schon ohne Schlüssel aus dem Haus? Von Taschentuch, Kamm und Zigaretten ganz zu schweigen.«
»Demnach hatte Asaturjans Mörder nichts dagegen, dass die Miliz sofort an Ort und Stelle die Identität seines Opfers feststellt. Es war ihm offenbar gleichgültig. Aber wenn er auch den Grauhaarigen umgebracht hat, warum hat er dann alles Erdenkliche getan, um dessen Identifizierung zu erschweren?«
»Willst du damit sagen, dass die beiden von zwei verschiedenen Tätern und aus verschiedenen Gründen umgebracht wurden?«
»Nein, Jura. Ich will sagen, dass bei dem Grauhaarigen irgendetwas anders ist als bei Asaturjan. Die beiden Fälle unterscheiden sich voneinander, und zwar grundsätzlich. Wenn wir uns mit Asaturjans Kontaktpersonen befassen, vertun wir nur unsere Zeit. Man hat eine falsche Spur gelegt, und wir laufen ihr hinterher wie zwei blinde Gäule. Man hat uns absichtlich auf den großen Bekanntenkreis eines energischen, aktiven
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