Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
verstehe vollkommen, Alina hat Sie sehr verletzt, aber das ist doch schon so viele Jahre her, alle haben die Geschichte längst vergessen, und das sollten Sie auch tun. Nun beruhigen Sie sich doch, ich bitte Sie . . .«
Er verließ die Semenzowa mit dem bedrückenden Gefühl, das er beim Anblick kläglicher, verletzter Menschen immer empfand. Soja hatte seine Zweifel nicht zerstreut, ihm aber zumindest einen Anhaltspunkt für weitere Nachforschungen gegeben. Nun musste er ihre Geschichte überprüfen; die Namen und Adressen von Frisör und Masseuse und allen anderen, die Soja erwähnt hatte, standen in seinem Notizbuch. Geb’s Gott, dass sich alles bestätigte. Aber wenn nicht . . .
Alina Wasnis
Zehn Jahre vor ihrem Tod
Im Laufe der Jahre hatte sie sich damit abgefunden. Er tauchte weiterhin auf, stand manchmal urplötzlich vor ihr, an einem dunklen, menschenleeren Ort. Alina bemühte sich, abends nicht allein hinauszugehen, aber manchmal musste sie doch durch eine dunkle, öde Straße, und dann, als hätte er auf sie gewartet, war er sofort zur Stelle. Inzwischen kannte sie den Sinn und die Bedeutung der Worte, die er ihr zuflüsterte, wobei er ihr direkt in die Augen sah. Mit der einen Hand hielt er ihre Hand, mit der anderen berührte er ihr dichtes kastanienbraunes Haar, das glatt und seidig war. Und er redete und redete . . . Sie hatte Angst, sie ekelte sich, aber sie blieb tapfer. An Schreien, um Hilfe rufen oder Weglaufen war nicht zu denken. Schließlich wohnte er irgendwo in der Nachbarschaft, und sie hatte keinen Zweifel: Er würde seine Drohung, die er jedes Mal wiederholte, bevor er ging, umgehend wahr machen.
Sie hielt sich seit langem für unsauber. Seit dem Tag, da ihre Freundin im Kindergarten zu ihr gesagt hatte, sie sei verdorben und ansteckend. Alina hatte damals niemanden gehabt, der ihr erklärt hätte, dass sie ohne jede Schuld war, dass sie genauso war wie alle Kinder. Es hatte an ihrer Seite keinen Erwachsenen gegeben, der zur Miliz gegangen wäre, um zu melden, dass in ihrer Gegend ein junger Mann wohnte, der Kinder belästigte. Sie trug ihre Angst mit sich herum, und in ihrer kindlichen Seele wuchsen Schuldgefühle und bittere Einsamkeit.
Mit der Zeit bemerkte sie, dass der schreckliche Mann (bei sich nannte sie ihn den Irren) mit einer gewissen Regelmäßigkeit auftauchte. Jedenfalls kam er nicht häufiger als alle zwei, drei Monate. Darum atmete Alina nach jeder Begegnung auf, denn sie wusste: Nun konnte sie fünf, sechs Wochen lang ruhig durch die Straßen gehen, ohne sich dauernd umzusehen und zusammenzuzucken. Waren zwei Monate vergangen, begann sie zu warten. Hoffentlich bald, dachte sie wehmütig, dann habe ich es hinter mir und wieder für fast zwei Monate Ruhe. Das ging so weit, dass sie, wenn das Warten unerträglich wurde, abends hinausging und sich in einen kleinen Park in der Nähe setzte. Das funktionierte fast immer. Der Irre näherte sich von hinten, setzte sich neben sie, die Zähne widerlich gebleckt, griff in ihr langes, seidiges Haar und begann seine üblichen Ekelhaftigkeiten zu flüstern: Wie er ihr das Höschen runterziehen würde, sie mit den Fingern berühren und streicheln . . . Sie bemühte sich wegzuhören, an etwas anderes zu denken, zum Beispiel an die Schule, an ihre Hausaufgaben, an ihre Stiefmutter und ihre Brüder. Alina wusste: Sie musste innerlich die Augen zukneifen und durchhalten. Dafür hatte sie dann zwei Monate relative Ruhe.
Mit fünfzehn verstand sie dann jede seiner Gesten, wusste, warum er gegen Ende seines leisen, lüsternen Flüsterns die Hand aus ihrem Haar nahm und sich zwischen die Beine griff. Sie wusste, warum er plötzlich mitten im Wort abbrach, zwei, drei Sekunden lang schwieg und dann tief und irgendwie heiser seufzte. Ihr war bewusst, was mit diesem Mann vor sich ging, der neben ihr auf der Bank saß, und sie empfand nichts als Grauen und Ekel. Doch das Grauen wurde Gewohnheit, auch der Ekel wurde Gewohnheit. Und das Schuldgefühl. Und die Einsamkeit.
Sie hatte keine Freundinnen, und sie hatte nie gelernt, mit anderen zu reden. Alina hielt in Gedanken lange, flammende Monologe, sprach mit Phantasiepartnern, erzählte ihnen von Büchern, die sie gelesen, und von Filmen, die sie gesehen hatte, stritt mit ihnen, bewies und erklärte ihnen etwas. Sie beklagte sich bei ihnen und tröstete sie, wenn sie sich bei ihr beklagten. In ihrem Kopf existierte eine ganze Welt voller guter, kluger Menschen, denen sie nicht gleichgültig war,
Weitere Kostenlose Bücher