Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
etwas bei sich. Das erklärte die »Gedächtnislücken«. Das Einzige, dessen sie sich sicher war: Sie war im Büro gewesen. So viel war sicher. Sie war von vielen Menschen gesehen worden, hatte mit ihnen gesprochen, doch an Einzelheiten dieser Gespräche erinnerte sie sich nicht.
Allerdings war auch eine andere Erklärung möglich: Soja hatte überhaupt keine Gedächtnislücken, sie versuchte nur, Stassow etwas zu verbergen. Er musste sehr vorsichtig sein mit dieser Frau, durfte sie einerseits nicht kränken, sie andererseits aber auch nicht misstrauisch machen.
»Ich . . . Nein, ich habe nicht auf ihn gewartet. Er wurde wahrscheinlich irgendwo aufgehalten, und ich hatte es eilig.«
»Wohin wollten Sie?«, erkundigte er sich unschuldig.
»Etwas erledigen.«
Die Semenzowa warf ihm einen raschen Blick zu und goss sich erneut Kognak ein.
»Gut, gehen wir weiter, Soja Ignatjewna. Sie verließen das Büro also ungefähr um . . . fünf? Um sechs?«
»Gegen fünf.«
»Und wohin gingen Sie dann?«
»Hören Sie, Slawa, dort, wohin ich dann ging, wurde nicht über Alina gesprochen, ausgeschlossen. Alles, was im Büro passiert ist, habe ich Ihnen erzählt. Ich habe Alina dort nicht gesehen und sie auch nicht angerufen. Und was ich über sie gehört habe, belegt nur, dass sie ein brutales, herzloses, dummes Flittchen war. Ich verstehe ja, dass ich ihr scheißegal war, wer war ich schon für sie? Eine ehemalige Rivalin. Und das ist schon lange her! Aber wie konnte sie Andrej Lwowitsch so etwas antun? Er hat sich ihr anvertraut, und sie hat ihn derartig bloßgestellt. Er schämt sich doch jetzt, mir in die Augen zu sehen.«
»Trotzdem, Soja Ignatjewna, wohin gingen Sie gegen fünf?«
»Zum Frisör.«
»Und wie lange blieben Sie dort?«
»Bis gegen sieben, glaube ich. Wissen Sie, es dauert neuerdings immer sehr lange beim Frisör. Die modernen Frisuren sind kompliziert – Dauerwelle, Strähnchen färben, das alles braucht Zeit.«
»Und nach dem Frisör?«
Je näher sie dem Freitagabend kamen, desto deutlicher wurde die Panik, die Soja erfasste. Stassow fiel das gestrige Gespräch mit der Kamenskaja ein: Nach ihren Worten hatte Degtjar keine Sekunde daran gezweifelt, dass Soja von den psychischen Voraussetzungen her Alina durchaus getötet haben könnte. Was die körperliche Verfassung anging, da gab es natürlich Zweifel, und zwar erhebliche, aber nur, wenn Alina nicht bewusstlos gewesen war. Aber wenn doch? Irgendwie war Soja sehr nervös.
Sie hatte Antworten parat auf jede Frage zu ihrem Aufenthalt bis zehn Uhr abends, als sie nach ihren Worten nach Hause gekommen und ins Bett gegangen war, und diese Antworten waren wesentlich glatter als ihre verworrene Aussage über die dreieinhalb Stunden, die sie im Sirius-Büro verbracht hatte. Das gefiel Stassow ganz und gar nicht.
»Soja Ignatjewna, ich habe das Gefühl, Sie lassen etwas aus, Sie wollen mir etwas verheimlichen. Habe ich Recht?«
Die Reaktion der Semenzowa war so heftig, dass Stassow ein wenig erschrak.
»Ich verheimliche Ihnen nichts! Hören Sie? Was soll ich denn verheimlichen? Über meine Schande wissen alle Bescheid! Alle wissen es! Alle! Diese Wasnis war einfach ein unersättliches Drecksstück. Die Demütigungen, die ich vor fünf Jahren hinnehmen musste, als sie mir die Rolle der Azucena weggenommen hat, waren ihr noch nicht genug. Ich war damals bei ihr zu Hause, hab geheult, sie angefleht, auf die Azucena zu verzichten und die Leonora zu spielen, wie ursprünglich vorgesehen. Ich habe ihr doch alles erklärt, alles! Wie wichtig es für mich wäre, diese Rolle zu bekommen. Und was ich durchgemacht habe, als meine Familie umgekommen ist! Wie qualvoll meine Therapie war! Ich habe ihr doch alles erzählt! Und sie? Sie hat mich angehört, hat kein Wort dazu gesagt und dann gemacht, was sie wollte. Wenn Sie wüssten, was es mich gekostet hat, meinen Stolz zu unterdrücken und sie anzubetteln. Sie, eine Rotznase, eine kleine Studentin! Ich, eine verdiente Schauspielerin, bin vor ihr auf die Knie gefallen, habe geweint und sie angefleht. Kann man so etwas je verzeihen? Sie hat ihren Tod verdient, das sage ich Ihnen. Wer immer sie getötet hat, dem sollte man noch zu Lebzeiten ein Denkmal errichten.«
Soja zitterte wie im Fieber und versprühte Speichel; Stassow fürchtete, sie könne jeden Augenblick einen Herzanfall bekommen.
»Soja Ignatjewna, beruhigen Sie sich.« Er nahm sanft ihre Hand und drückte sie leicht. »Regen Sie sich nicht so auf. Ich
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