Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
die sich um sie kümmerten und mit ihr bangten, wenn sie eine Prüfung zu bestehen hatte. Aber sobald sie den Mund aufmachte, war sie wie von tödlicher Kälte gelähmt. Ihr schien, niemand interessiere sich für sie, niemand brauche sie und ihre Gedanken und Gefühle. Zudem hatte sie Angst. Die kindliche Erfahrung war so bitter und schmerzhaft gewesen, dass Alina Wasnis seitdem schreckliche Angst hatte, jedes Wort, das sie sagte, könne gegen sie verwendet werden.
Die Lehrer bemerkten nichts. Alina hatte ein wunderbares Gedächtnis, sie konnte die Lehrbuchantworten auswendig herunterbeten und dank ihres normal entwickelten Verstandes Mathematik-, Chemie- und Physikaufgaben mühelos lösen. Nur die Literaturlehrerin wunderte sich, denn sie stellte häufig Fragen, die nicht im Lehrbuch standen. Sie hörte sich die Antwort eines Schülers zum Thema »Tolstois Napoleonbild im Roman ›Krieg und Frieden‹« an und fragte dann zum Beispiel:
»Und was meinst du selbst, war Napoleon grausam? Du hast doch den Roman gelesen, welchen Eindruck hast du gewonnen?«
Wenn Alina solche Fragen gestellt bekam, begann sie zu stammeln, rang sich Worte ab, die nicht im Geringsten wiederzugeben vermochten, was sie dachte. Ja, sie hatte eine eigene Meinung, aber panische Angst davor, sie laut zu äußern. Womöglich war wieder etwas falsch?
»Einfach verblüffend«, sagte die Lehrerin dann. »Alina, du schreibst doch so glänzende Aufsätze, warum sprichst du so schlecht?«
Weil meine Aufsätze nur Sie lesen, antwortete Alina ihr in Gedanken. Meine Antwort dagegen hört die ganze Klasse. Weil ich Ihnen vertraue, Sie würden mich nie vor den anderen bloßstellen, wenn in meinem Aufsatz etwas falsch wäre. Aber wenn ich etwas Lächerliches oder Falsches sage, dann würden die Klassenkameraden mich auslachen und verachten.
Das hatte sie ihrem Bruder Imant zu verdanken, der hatte ihr diese panische Angst vor ihren eigenen Worten eingeflößt. Mit fünfzehn wusste und verstand sie bereits alles, was ein Mädchen ihres Alters wissen und verstehen musste. Natürlich auch, dass es keine Wörter gab, von denen man Ausschlag im Mund bekam. Aber die kindlichen Ängste waren noch lebendig, sie hatten Wurzeln geschlagen und waren mit den Jahren immer tiefer und tiefer eingedrungen. Sie hatte noch immer Angst vor Menschen und ging ihnen aus dem Wege, folglich sprach sie wenig, dafür dachte sie viel nach und redete mit sich selbst.
Sie war fest entschlossen, Schauspielerin zu werden. Nicht aus den naiven Beweggründen, von denen sich die meisten Mädchen leiten lassen, die sich an der Filmhochschule oder an einer Schauspielschule bewerben. Am wenigsten dachte sie dabei an Ruhm, Berühmtheit, ein schönes Leben und Gastspiele im Ausland. Sie wollte gehört werden, wollte den Menschen den Ozean an Gedanken, Gefühlen, Urteilen und Empfindungen nahe bringen, der sich im Laufe vieler Jahre in ihr angesammelt hatte. Aber nicht in ihrem eigenen Namen, nicht als Alina Wasnis, sondern im Namen der Figuren, die sie spielen würde. Dieser Ozean drängte nach außen, drohte ihre zarte, noch unreife junge Psyche zu sprengen, blieb aber in ihr eingesperrt, verriegelt von ihrer ewigen Angst, falsch verstanden und abgelehnt zu werden. Für eine ausgedachte Figur aber war sie ja nicht verantwortlich.
Fünftes Kapitel
Kamenskaja
Nach der morgendlichen Dienstbesprechung am Montag debattierten Nastja Kamenskaja und Jura Korotkow über ihr weiteres Vorgehen. Gleich am Morgen hatte Nastja sich nach den Ergebnissen der Gerichtsmediziner erkundigen können, die den Leichnam von Alina Wasnis obduziert hatten. Der Tod war durch Ersticken eingetreten. Aber in ihrem Blut wurden Spuren eines starken Beruhigungsmittels gefunden, und zwar eine ziemlich hohe Dosis.
»Und was haben wir davon?«, fragte Korotkow traurig. »Xenija Masurkewitsch besaß Beruhigungsmittel, mindestens achtzig Tabletten, und es ist völlig offen, wo sie die gelassen hat. Ansonsten müsste sie das Rezept noch haben. Entweder oder. Die Semenzowa kann die unglückliche Wasnis durchaus erstickt haben, wenn sie sie zuvor mit Beruhigungsmitteln voll gestopft hat. Auch mit Charitonow ist alles unklar. Zu beweisen, dass man an einem bestimmten Ort nicht war, ist ein Leichtes, wenn man zur fraglichen Zeit woanders gesehen wurde. Aber wie beweist man, dass man an einem bestimmten Ort war, wenn einen dort niemand gesehen hat? Er schwört, er habe Alina die gesamte Summe gebracht. Wie können wir das
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