Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
amüsiert und dann bis abends schläft.«
»Ich verstehe, Soja Ignatjewna, aber trotzdem, wann genau sind Sie aufgestanden?«
»Na ja . . . Wahrscheinlich um acht. Nein, um halb acht. Um acht war ich schon draußen.«
»Und wohin sind Sie gegangen?«
»Was spielt das für eine Rolle? Ich war spazieren.«
Klar, dachte Stassow. Sie hat sich am frühen Morgen eine Flasche besorgt.
»Wie lange waren Sie spazieren?«
»Etwa eine halbe Stunde.«
»Und dann gingen Sie wieder nach Hause?«
»Ja, nach Hause. Sehen Sie, ich . . .«
Langsam und mühselig ging Stassow mit ihr Stunden und Minuten durch, wobei er immer wieder nachfragen, berichtigen und die Zeitabstände nachrechen musste. Von halb acht bis halb zwei ging alles auf, bis auf die Minute. Um halb zwei war Soja Semenzowa im Büro des Filmkonzerns Sirius erschienen, einer gemütlichen Villa in einer ruhigen kleinen Gasse im Zentrum von Moskau. Soja wollte sich das Drehbuch des Films abholen, in dem Andrej Smulow ihr eine kleine Rolle angeboten hatte. Eine Woche zuvor hatte sie die Probeaufnahmen gemacht und erfahren, dass sie angenommen worden war. Auf der Treppe stieß sie mit der Maskenbildnerin Katja zusammen, die sie seit vielen Jahren kannte.
»Ach, Soja, es ist wirklich nicht zu fassen, diese Alina ist doch ein Aas!«, zwitscherte Katja sofort los, nachdem sie Soja auf die Wange geküsst hatte. »Andrej Lwowitsch ist das so peinlich, er ist ganz durcheinander.«
»Wovon redest du?«, fragte die Semenzowa misstrauisch, denn ihr schwante nichts Gutes.
»Wovon schon! Smulow war mit deinen Probeaufnahmen nicht zufrieden, aber er wollte dich trotzdem engagieren, weil er weiß, dass du eine gute Schauspielerin bist. Aber Alina hat überall rumerzählt, dass die Probeaufnahmen schlecht sind und Andrej Lwowitsch dich nur aus Mitleid besetzt, weil ja alle wissen, dass du trinkst, und weil er dich moralisch unterstützen will. Verstehst du, das hat er ihr unter vier Augen anvertraut, und sie tratscht es gleich in allen Studios rum. Auch einen Diebstahl hat sie erwähnt, eine uralte Geschichte. Du sollst irgendwem was gestohlen haben. Das Ganze ist natürlich Sarubin zu Ohren gekommen, der hat Smulow zu sich bestellt und ihm verboten, dich zu besetzen.«
Sarubin war der Produzent des Films, er war dafür verantwortlich, dass die Ausgaben einen bestimmten Prozentsatz des erwarteten Gewinns nicht überstiegen. Pedantisch zählte er jede Kopeke, sparte, wo er konnte, damit der Film möglichst billig wurde. Allerdings geizte er nie, wenn eine zusätzliche Investition größeren Gewinn versprach. Die Semenzowa zu besetzen entbehrte von seiner Warte aus jeder Vernunft. Da ihr vor vielen Jahren der Titel »Verdiente Schauspielerin« verliehen worden war, bekam sie selbst für eine kleine Rolle eine ziemlich hohe Gage. Wozu, wenn man die Rolle ebenso gut mit einer anderen Schauspielerin besetzen und dafür wesentlich weniger ausgeben konnte? Außerdem, wenn Smulow mit den Probeaufnahmen unzufrieden war, konnte niemand ausschließen, dass sie nicht auch schlecht spielen würde. Es ging zwar nur um eine Episode des Films, aber eine einzige falsche Perle konnte ein ganzes Kollier verderben. Wozu das Risiko?
Bebend vor Wut erreichte Soja das Zimmer, in dem sie das Drehbuch abholen wollte. Unterwegs begegneten ihr Schauspieler, Requisiteure, Produktionsassistenten, und allen stand ins Gesicht geschrieben: Ja, was Katja ihr erzählt hatte, war die Wahrheit. Manche sahen sie mitleidig an, andere unverhohlen schadenfroh, doch sie alle, da war sich Soja sicher, wussten bereits, dass sie rausgekantet worden war. Und zwar nicht von irgendwem, sondern von der Wasnis, diesem Aas. Zum zweiten Mal.
Das Gespräch mit der Maskenbildnerin und der anschließende Weg durch die Flure der Villa waren das Letzte, was Soja Semenzowa mehr oder weniger klar darlegen konnte. Der Rest war verworren und unsicher. Sie erinnerte sich nicht, mit wem sie gesprochen hatte, wohin sie gegangen war, wen sie angerufen hatte. Sie förderte lediglich Informationsbrocken zutage. Zum Beispiel erinnerte sie sich, dass sie mit Smulow sprechen wollte und sich erkundigt hatte, wo er sei. Sie erfuhr, er habe bis eins in dem gemieteten Studio gedreht und würde gegen drei ins Büro kommen und das abgedrehte Material bringen.
»Haben Sie auf ihn gewartet?«, fragte Stassow, der bereits ahnte, dass Soja, nachdem sie die Hiobsbotschaft bekommen hatte, umgehend zur Flasche gegriffen hatte. Vermutlich trug sie immer
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