Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
niemanden beachtet. Sie war schweigsam, verschlossen, hat nie irgendetwas erzählt, sich nie mitgeteilt. Und ich war doch gerade erst neunzehn, als ich hergebracht und mit Waldis verheiratet wurde. Und dann gleich dieser große Haushalt, vier Personen, für die ich kochen musste, Wäsche waschen, die riesige Wohnung sauber halten. Meinen Sie, das war leicht? Nicht, dass ich nicht ans Arbeiten gewöhnt war, nein, im Dorf bin ich früh um vier aufgestanden, zum ersten Melken, wir hielten Kühe und Ferkel. Der Hof war groß, und vorm Arbeiten hatte ich keine Angst. Aber den ganzen Tag . . . Bis alles erledigt war, kam schon die Nacht. Und dann noch jedem Kind ins Herz sehen – dafür blieb nicht die Zeit. Nur Imant . . . Er war immer sehr häuslich, sehr still, er hat mir geholfen. Alois kam aus der Schule gerannt, hat schnell was gegessen und lief gleich Geld verdienen, Autos waschen. Wenn Waldis von der Arbeit kam, böse, müde und schmutzig, hat er sich gewaschen, gegessen und sich mit der Zeitung vor den Fernseher gesetzt, kein gutes Wort hatte er für mich übrig. Alina hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und Hausaufgaben gemacht, sie hätte nicht einmal etwas zu essen verlangt, wenn ich sie nicht zu Tisch gerufen hätte. Nur Imant, der saß bei mir in der Küche, ist auch mit mir einkaufen gegangen, hat die Taschen getragen, wir brauchten ja viel: Fleisch, Kartoffeln, Kohl, das ist doch alles schwer, und bei der Wäsche hat er mir auch geholfen. Er hat mit mir geredet. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich in eurem Moskau das Sprechen ganz verlernt. Und jetzt? Alois ist in Finnland, ihm geht es gut, Alina ist Millionärin. Nur Imant ist leer ausgegangen.«
Während Korotkow Ingas verworrenen Erklärungen zuhörte und die Wände des großen Zimmers betrachtete, kam ihm ein Verdacht. Helle Tapeten in kühlen Farben, und direkt ihm gegenüber hing der einzige Schmuck: Ein großes Familienfoto, alle fünf zusammen. Der mürrische Waldis, Alina mit undurchdringlicher, ruhiger Miene, ein sympathisch lächelnder hellhaariger junger Mann, offenbar Alois. Und Imant und Inga. Genauso: Die anderen alle einzeln, Imant und Inga zusammen. Während alle anderen ins Objektiv schauten, sahen die Frau um die Fünfunddreißig und der große Blonde um die Dreißig oder etwas jünger sich an. Nein, sie blickten geradeaus, aber dennoch sahen sie einander an. Sie waren zusammen. Noch immer?
»Ist Imant verheiratet?«, fragte Korotkow und wusste die Antwort, bevor er sie hörte.
»Nein. Wir leben noch immer alle drei zusammen«, antwortete Inga, nun wieder ganz ruhig. »Waldis, Imant und ich.«
Sie sagte die Wahrheit. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches, na und, sie lebten zusammen, Vater, unverheirateter Sohn und die Stiefmutter, was war daran so Besonderes, selbst wenn die Stiefmutter nur sechs Jahre älter war als ihr Sohn. Sie lebten tatsächlich zu dritt zusammen, nur dass Waldis davon nichts ahnte.
»Sagen Sie, Inga, hat es Imant nie gekränkt, dass Alina die Brillanten der Mutter bekommen hat?«
»Ich weiß nicht«, reagierte Inga kühl. »Darüber hat er mit mir nicht gesprochen.«
»Überlegen Sie noch einmal, Inga, erinnern Sie sich. Sie standen Ihrem ältesten Sohn doch immer sehr nahe.« Korotkow bezeichnete Imant absichtlich als ihren Sohn, um ihr nicht zu verraten, dass er Bescheid wusste. »Hat er mit Ihnen nicht über alle seine Probleme gesprochen?«
»Ich weiß es nicht«, wiederholte sie noch kühler. »Wir haben darüber nicht gesprochen.«
»Haben Sie nie versucht, mit Ihrem Mann zu reden, ihn dazu zu bewegen, dass er seinen Entschluss änderte? Das war doch wirklich ungerecht: Alina bekam alles, und die Söhne nichts.«
»Er hat Alina mehr geliebt. Sie war die Letzte, die Jüngste. Waldis hat immer gesagt, dass sie seiner Frau sehr ähnlich sieht. Waldis denkt, Männer muss man nicht unterstützen, dafür sind sie schließlich Männer, um alles selbst zu erreichen. Aber Alina ist ein Mädchen, und wer soll denn für sie sorgen, wenn nicht die Eltern?«
»Gut, das meinte Waldis. Und Sie? Was meinen Sie? Finden Sie das auch?«
Inga senkte den Blick und betrachtete das Teppichmuster.
»Es geht niemanden etwas an, was ich meine. Jedenfalls habe ich auf diese Brillanten keinen Anspruch erhoben. Was soll ich damit? Wie Waldis entschieden hat, so ist es richtig.«
Interessant! Erst vor einer halben Stunde hatte sie sich ereifert, dass die Entscheidung ihres Mannes falsch war, ungerecht. Alina
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