Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
ist Millionärin und Imant ist leer ausgegangen. Das waren ihre Worte. Zog sie sich zurück, weil sie merkte, dass sie zu viel gesagt hatte?
»Inga, wo ist Imant jetzt?«
In ihren Augen flammte Angst auf, und es gelang ihr nicht, sie zu löschen.
»Arbeiten wahrscheinlich.«
»Wann kommt er nach Hause?«
»Wahrscheinlich um sieben, wie immer. Er hat jedenfalls nicht gesagt, dass er später kommt.«
»Finden Sie es nicht seltsam, dass er zur Arbeit geht, als wäre nichts geschehen, nachdem seine Schwester ermordet wurde? Schließlich ist übermorgen die Beerdigung, da gibt es doch eine Menge zu erledigen.«
»Darum kümmert sich Waldis. Er hat heute frei. Bei Imant auf Arbeit sind sie streng, er kann nur unbezahlt frei nehmen. Bei uns zählt jede Kopeke, Waldis ist in Rente gegangen, er arbeitet zwar noch nebenbei, aber das sind nur ein paar Rubel.«
»Und Alois? Weiß er von dem Unglück? Kommt er zur Beerdigung?«
»Ich weiß nicht.«
»Wie das?«
»Er ist jetzt in Finnland. Anrufen ist teuer, das können wir uns nicht leisten. Außer er ruft selbst an . . .«
Korotkow verließ die Wohnung der Familie Wasnis mit einem Stein auf dem Herzen. Diese Familie war anders als alle, die er kannte. Geizig? Knauserig? Oder einfach nur sparsam, weil sie nie besonders wohlhabend war? Von Inga hatte er erfahren, dass die Verwandten von Waldis’ erster Frau, solange sie noch in Moskau lebten, ihnen immer mal Geld für »Sonjas Kinder« zugesteckt hatten. Die überstürzte zweite Heirat des Schwiegersohns hatte ihre Gefühle verletzt, sie brachen den Kontakt zu Waldis ab und schickten das Geld nur noch per Postanweisung. Doch diese Verwandten lebten schon lange im Ausland, sie waren neunzehnhundertzweiundachtzig ausgereist. Na schön, die Wasnis’ waren arm, aber sie mussten doch irgendwelche menschlichen Gefühle haben! Dem leiblichen Bruder nicht mitzueilen, dass seine jüngere Schwester tragisch ums Leben gekommen war, und zwar nur deshalb, weil Auslandsgespräche so teuer waren? Das wollte ihm nicht in den Kopf. Was waren das für Leute, diese Familie Wasnis? Zurückhaltend mit ihren Emotionen? Oder einfach kalt und herzlos? Von Alina jedenfalls wurde genau das behauptet. Ihre Stiefmutter und ihre Kollegen von Sirius waren sich einig: höflich und kalt. Äußerlich freundlich, aber gleichgültig, verschlossen und hart.
Zweifellos kränkte es Inga, dass Imant leer ausgegangen war. Imant war ihr einziger Lichtblick in dieser fremden Stadt, dieser fremden Kultur, diesem fremden Land. Die rechtlose Haushälterin, die kein eigenes Kind bekommen durfte, aber regelmäßig ihren ehelichen Pflichten nachkommen musste, hatte Trost gefunden bei einem Jungen, der nur ein paar Jahre jünger war als sie. Intime Beziehungen zwischen Stiefmutter und Stiefsohn sind, ebenso wie zwi-schen Stieftochter und Stiefvater, keine Seltenheit, im Gegenteil. Es ist nur nicht üblich, darüber zu reden. Auch geschrieben wird darüber wenig. Konnte Imant die eigene Schwester wegen der Brillanten getötet haben? Ja. Und wenn Charitonow tatsächlich das Geld gebracht hatte, dann waren dem Mörder außer dem Schmuck noch über sechstausend Dollar zugefallen. Und Inga? Konnte sie es getan haben, für den einzigen Menschen, der ihr nahe stand? Ja, auch sie kam infrage.
Korotkow war schon zu lange bei der Kripo, um auf Urteile zu vertrauen, die da lauteten: Er kann das nicht getan haben, so ein Mensch ist er nicht. Die Frage »Kann er es getan haben oder nicht?« beantwortete er unter dem Aspekt der körperlichen Verfassung des Verdächtigen. Ein Dicker kann nicht durch ein Lüftungsfenster gekrochen sein. Ein kleiner Mann kann einem großen Mann keinen Schlag von oben auf den Kopf versetzt haben, es sei denn, er stand dabei auf einem Hocker. Ein Mensch kann niemanden überfahren haben, wenn er nicht einmal weiß, wie man ein Auto anlässt. Alle sonstigen Überlegungen, die sich auf die Einschätzung von Charakter und Psyche stützten, schob er beiseite. Korotkow wusste sehr gut, dass der Mensch zu allem fähig war. Buchstäblich. Auch der Sanfteste und Freundlichste kann zur Bestie werden. Auch der Brutalste und Aggressivste kann plötzlich Mitleid haben und sentimental werden. Alles kommt vor auf dieser Welt.
Was das Alibi anging, so war Waldis Wasnis in der Nacht vom fünfzehnten auf den sechzehnten September, als seine Tochter getötet wurde, arbeiten. Als Rentner verdiente er sich nebenbei ein bisschen Geld als Pförtner; jeden dritten Tag
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