Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
aufmachst und man die Spuren der Fingernägel sieht. Das wird klasse.«
»Okay, mach ich.«
Zehn Minuten später stellte sich Alina erneut in die Mitte, und die Szene begann. Laut Drehbuch sollte sie den Blick langsam über die Gruppe der Komparsen schweifen lassen. Und plötzlich sah sie IHN. Den Irren. Sie konnte sich unmöglich täuschen, es war das Gesicht mit dem hässlichen Muttermal auf der Wange, es waren die schrecklichen Augen, die schmalen, nassen Lippen. Aber das konnte nicht sein! Es konnte nicht sein! Er war zwei Jahre lang nicht aufgetaucht. Er war tot!
Alina vergaß für einen Moment, dass sie drehten. Abermals hatte die Angst von ihr Besitz ergriffen, war nach zwei Jahren zurückgekehrt.
»Genial!«, hörte sie Andrej sagen.
Andere Stimmen fielen ein.
»Umwerfend!«
»Wahnsinn!«
»Alina, du bist ein Genie!«
Mühsam schüttelte sie die Erstarrung ab. Sie hatte sich zu früh gefreut, ihre Krankheit war offenbar schon zu weit fortgeschritten. Niemand schluckte ungestraft jahrelang Psychopharmaka. Sie hatte geglaubt, sie wäre wieder gesund, aber der Albtraum war zurückgekehrt, diesmal als Halluzination. Wie würde das weitergehen? Mein Gott, wie? Lebenslänglich Psychiatrie? Geisteskrank? Allseitiges Mitleid? Alle gratulierten ihr, glaubten, sie hätte das Entsetzen genial gespielt; was, wenn sie erführen, dass sie keineswegs eine geniale Schauspielerin war, sondern eine gewöhnliche Verrückte, gepeinigt von Halluzinationen und einer akuten Psychose?
Sie bemühte sich um Beherrschung, damit niemand ihre Verzweiflung ahnte. Vor allem Andrej sollte nichts bemerken. Er hatte sich so lange um sie bemüht, um sie von ihrer Angst zu erlösen, hatte so viel Zeit und Kraft in sie investiert, er durfte nicht erfahren, dass das alles vergeblich gewesen war. Das würde er nicht überleben! Das wäre ein solcher Schlag für ihn!
Alina brachte es fertig, auf dem Weg ins Hotel mit Andrej und der Regieassistentin Jelena Albikowa das Gesicht zu wahren. Mit letzter Kraft hielt sie sich noch beim Essen, dann schützte sie Müdigkeit vor und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Sie konnte nicht weinen. Sie hatte Schüttelfrost wie im Fieber, die Hände zitterten, die Zähne schlugen klappernd aufeinander. Blieb nur ein Mittel – die Tabletten, die sie noch immer bei sich trug. Nicht, dass sie sie absichtlich mitnahm, sie lagen einfach in ihrer Reiseapotheke, seit damals, als sie sie regelmäßig genommen hatte. Neben Aspirin, Kopfschmerztabletten, Erkältungsmitteln, Wasserstoffperoxyd und Pflastern.
Sie legte sich drei davon unter die Zunge, und nach zwanzig Minuten wurde sie langsam gelöster. Sie streckte sich auf dem Bett aus, zog zwei Decken über sich, obwohl draußen fünfundzwanzig Grad herrschten, und zwang sich, zu entspannen und einzuschlafen. Am Abend konnte sie sogar zum Abendessen hinuntergehen und mit Smulow einen Strandspaziergang unternehmen. Dass sie wortkarg war, fiel ihm nicht weiter auf, das war sie meistens. Am nächsten Tag sollte weiter gedreht werden, deshalb übernachtete Andrej nicht bei ihr. Am Morgen nahm sie wieder Tabletten und ging zum Set. Es gelang ihr, so zu spielen, dass niemand etwas bemerkte – Gott allein wusste, welche Anstrengung sie das kostete. Gut, dass es der letzte Drehtag war. Sie fuhren nach Moskau zurück.
In Moskau kam sie allmählich wieder zur Ruhe. Der Anfall wiederholte sich nicht, die Halluzinationen kamen nicht wieder, und Alina fühlte sich sicherer. Dann sahen sie sich das abgedrehte Material an. Den Film mit der Strandszene – der erste Take, dann der zweite. Wieder sah sie das abstoßende Gesicht mit dem Muttermal und den schrecklichen Augen, das die ganze Leinwand füllte. Alina biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzustöhnen. Es war wieder passiert! Schon wieder!
Sie war zu stark und dachte zu nüchtern, um sich kampflos zu ergeben. Langsam blickte sie sich im Saal um. Ja, alles war wie immer, alle saßen ganz normal auf ihrem Platz, niemand hatte plötzlich zwei Köpfe oder fünf Arme. Also war sie nicht krank, also war das keine Halluzination. Der Irre war tatsächlich dort gewesen, am Strand. Und war gefilmt worden.
Sie beschloss, sich selbst zu kontrollieren; sie neigte nicht zu Panik und kämpfte immer bis zum Letzten. Sie bat den Filmvorführer, den zweiten Take noch einmal zu wiederholen. Andrej sah sie erstaunt an, unterstützte jedoch ihre Bitte. Glücklicherweise schlossen sich auch andere im Saal an.
»Natürlich, schauen
Weitere Kostenlose Bücher