Anathem: Roman
Lio, Arsibalt und ich ohne seine Hilfe auskommen mussten.
Davon und von dem langen Vormittag im Schreibsaal war ich ausgehungert und aß im Refektorium wie ein Scheunendrescher. Als ich fast fertig war, kam Orolo herein, holte sich ein leichtes Mittagessen und setzte sich allein an seinen neuen Lieblingsplatz: den Tisch, von dem aus er durchs Fenster und, bei schönem Wetter, auf die Berge hinausschauen konnte. Das war heute nicht der Fall, aber man hatte den Eindruck, dass die Wolken später von einem kalten, klaren Windstrom weggespült werden könnten. Als ich fertiggegessen hatte, ging ich hinüber und setzte mich zu ihm. Ich vermutete, dass Spelikon ihn auch mit Fragen gelöchert hatte, wollte das Thema aber nicht anschneiden. Davon musste er die Nase gründlich voll haben.
Er lächelte mich schwach an. »Den Hierarchen habe ich zu verdanken«, sagte er, »dass ich bald wieder Beobachtungen werde anstellen können.«
»Öffnen sie das Sternrund? Das ist ja eine tolle Neuigkeit!«, rief ich aus. Orolo lächelte wieder. Allmählich fingen die Dinge an, einen Sinn zu ergeben. Irgendetwas hatte den Hierarchen einen Schrecken eingejagt. Sie hatten Orolos Aktivitäten zur Vorbereitung
der Apert auf eine Weise missgedeutet, die ich immer noch nicht verstand. Jetzt erkannten sie endlich, dass sie sich getäuscht hatten, und alles würde jetzt zur Normalität zurückkehren.
»Ich muss zugeben, dass ich im M & M eine Tafel habe, die ich unbedingt wieder in die Finger bekommen will«, sagte er.
»Wann werden sie es öffnen?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Orolo.
»Was wirst du dir denn als Erstes anschauen?«
»Oh, das möchte ich jetzt lieber nicht sagen. Nichts, was die Leistungsfähigkeit des M & M erfordert. Ein kleineres Teleskop würde genügen, ja sogar ein im Handel erhältlicher Spulocorder.«
»Spelikon hat mir alle möglichen Fragen gestellt über diese …«
Er legte den Finger an die Lippen. »Ich weiß«, sagte er, »und es ist gut, dass du seine Fragen so und nicht anders beantwortet hast.«
Ein paar Augenblicke lang war ich abgelenkt, da ich im Kopf die Implikationen davon durchging. Die Nachricht war gut. Wenn aber die Leute wieder anfingen, zum Sternrund hinaufzusteigen, könnten sie die Tafel finden, die ich im Auge der Clesthyra gelassen hatte, und das konnte mich in Teufels Küche bringen. Jetzt fand ich es dumm von mir, sie dort hineingesteckt zu haben. Wie sollte ich sie wieder herausholen?
Orolo schaute durch ein anderes Fenster auf die Uhr. »Vor ein paar Minuten habe ich Tulia gesehen. Sie und Ala waren dabei, ihre Mannschaft zusammenzutrommeln. Sie bat mich, dir eine Nachricht weiterzugeben.«
»Ja?«
»Sie wird nicht zu dieser Mahlzeit kommen. Sie wird dich dann beim Abendessen sehen.«
»Das ist die Nachricht?«
»Ja. Die Mannschaft muss ein paar ungewohnte Wechsel läuten – das wird ihre ganze Aufmerksamkeit erfordern. Ungefähr in einer halben Stunde fangen sie an. Sie meinte wohl, dass gerade du das besonders wichtig finden würdest. Keine Ahnung, warum.«
Voko .
Es musste sich um einen weiteren Voko handeln. Damit würde ich eine Chance bekommen, mich noch einmal zum Sternrund hinaufzuschleichen – das war die eigentliche Botschaft, die Tulia mir hatte zukommen lassen wollen.
Verstand Orolo das alles? Wusste er, was vor sich ging?
Wenn das Wechselläuten jedoch erst einmal begonnen hatte, konnte ich nicht gut gegen den Strom der Mitglieder des Regel- und Wehrwartstabs anstürmen, die herunterkämen, um dem Aut beizuwohnen. Das würde nur funktionieren, wenn ich vorher hinaufstieg, bevor die Glocken läuteten, und mich dort oben versteckte.
Und Lio sei Dank, hatte ich eine perfekte Ausrede dafür.
Ich stand auf. »Wir sehen uns im Mynster«, sagte ich zu Orolo.
»Ja«, sagte er, ehe er mit einem Zwinkern hinzufügte: »Oder vielleicht auch nicht.«
Für einen Augenblick war ich wie erstarrt und fragte mich wieder, wie viel er wusste. Das zauberte ein breites Lächeln auf sein Gesicht. »Damit meinte ich nur«, sagte Orolo, »dass man nie weiß, wer nach einem dieser Auts im Mynster bleibt und wer geht.«
»Glaubst du, du könntest bei dem Voko aufgerufen werden?«
»Das ist höchst unwahrscheinlich!«, sagte Orolo. »Aber für den Fall, dass du aufgerufen wirst …«
Ich schnaubte. Jetzt machte er sich nur über mich lustig.
»Für den Fall, dass du aufgerufen wirst«, sagte er, »sollst du wissen, dass ich die Fortschritte gesehen habe, die du in den
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