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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Moment lang nackt da, ein Bündel Kulle im Arm, und blickte geradewegs den Schacht hinauf, genau wie Fraa Paphlagon es beim Voko getan hatte.
    Ich öffnete die Tür zum Sternrund und ließ das Licht hereinströmen. Orolo sah es und neigte den Kopf wie ein Deolatist, der zu seinem Gott betet. Dann schlüpfte ich hindurch und machte die Tür hinter mir zu. Die ganze schreckliche Szene im Mynster verschwand und wurde durch den einsamen Ausblick vom Sternrund ersetzt.
    Im selben Moment begann ich laut zu schluchzen. Mein Gesicht zog sich von meinem Schädel zurück, als würde ich erbrechen, und aus meinen Augen rannen Tränen wie Blut aus einer klaffenden Wunde. Ich war traurig – weniger überrascht -, weil ich von dem Augenblick an, als Fraa Spelikon begann, mich über Spulocorder zu befragen, gewusst hatte, dass es so kommen würde. Weil es zu schrecklich war, darüber nachzudenken, hatte ich es nicht vorausgesehen, bis ich ihm nicht mehr entrinnen konnte – bis es passiert war. Bis jetzt. Deshalb brauchte ich keine Zeit mit Erstaunen zu verschwenden, so wie diese Fraas und Suurs unter mir; ich ging ohne Umschweife zum tiefsten und umfassendsten Schmerz über, den ich je erlebt hatte.
    Meinen Weg zum Pinakel fand ich mehr tastend als sehend, da ich im Grunde nur hell und dunkel wahrnehmen konnte. Bis ich oben angekommen war, war ich zu einem hysterischen Geheul übergegangen, wischte mir aber mit der Kulle zwei Mal übers Gesicht, holte mehrmals tief Luft und beruhigte mich lange genug, um die
Staubabdeckung zu öffnen und die Tafel aus dem Auge der Clesthyra herauszuziehen. Ich wickelte sie in meine Kulle, was mir das Bild von Orolo, wie er die seine abstreifte, ins Gedächtnis zurückrief.
    Er würde nackt dastehen, während die Avot ein zorniges Lied sangen, mit dem sie ihn anathemisierten. Wahrscheinlich sangen sie es jetzt gerade. Man sollte es so singen, wie man es meinte. Für die Tausender und die Hunderter, die ihn nicht gekannt hatten, mochte das einfach sein. Ich schätzte aber, dass hinter dem Zehnerschirm ein eher uneinheitlicher Klang hervorkommen würde.
    Ich ging in den Steuerungsraum des M & M und suchte in dessen Objektiv nach der Tafel, die Orolo hineingesteckt hatte, als er, kurz bevor sie alles verriegelt hatten, mit mir hier gewesen war. Doch es war leer. Jemand war vor mir hier gewesen und hatte sie beschlagnahmt. Genau wie sie jetzt die Nischen, die er benutzt hatte, durchsuchen und all seine Schriften herausnehmen würden.
    Dann tat ich etwas, was töricht gewesen sein mag, was aber notwendig war: Ich ging an dieselbe Stelle, von der aus ich zugesehen hatte, wie Fraa Paphlagon und die Inquisitoren in ihrem Luftfahrzeug abgehoben hatten. Ich hockte am Fuß desselben Megalithen und wartete darauf, dass Orolo aus dem Tagestor herauskam. Nachdem er den Chorraum und damit das Blickfeld der Avot verlassen hatte, hatten sie ihm eine Art Jutesack zur Bedeckung seines Körpers gegeben, und dazu eine Notfalldecke aus orangefarbener Knitterfolie, die er sich um die Schultern zog, als er auf den Platz hinaustrat und der Wind ihm entgegenschlug. Seine dünnen weißen Fußgelenke steckten verloren in einem Paar alter schwarzer Arbeitsstiefel, und er musste schlurfen, um sie nicht zu verlieren. Er entfernte sich vom Konzent, ohne sich ein einziges Mal umzuschauen. Nach kurzer Zeit verschwand er hinter dem Sprühnebel einer der Fontänen. Das war der Moment, in dem ich ihm den Rücken kehrte und mich auf den Weg nach unten machte.
    Als ich in den Chronochasmus zurückkehrte und hörte, dass der Aut des Anathems zu Ende ging, kam es mir wie eine kleine Gnade vor, dass ich diesen letzten Anblick von Orolo extramuros noch gehabt hatte. Die im Mynster sahen nur, wie er vom Unerkennbaren jenseits von ihnen verschluckt wurde, was (durchaus beabsichtigterweise) entsetzlich war. Ich hatte ihn wenigstens dort hinausgehen sehen. Was die Dinge keineswegs weniger schrecklich und traurig
machte. Aber zu sehen, dass er noch am Leben war und sich aus eigener Kraft im Säkulum bewegte, hieß, die Hoffnung zu haben, dass ihm da draußen jemand helfen würde – dass er vielleicht, ehe es dunkel wurde, schon in gebrauchten Kleidern in einer jener Bars saß, die er während der Apert aufgesucht hatte, ein Bier trank und nach einer Arbeit Ausschau hielt.
    Der Rest der Zeremonie war eine Bekräftigung der Gelübde und eine Erneuerung der Hingabe an die Regel. Das zu verpassen, war mir gerade recht. Ich wickelte die Tafel in

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