Anathem: Roman
Spulocorder angeschaut und herausgefunden hatten, dass er über eine Kombination von Funktionen verfügte, mit deren Hilfe man Dinge zu sehen vermochte, die das bloße Auge nicht sah. Nun ist es vergebliche Mühe, will man versuchen, aus dem Werbescheißdrökh schlau zu werden, den die Hersteller von Spulocordern zur Beschreibung dieser Funktionen verwenden. Aus meiner Erfahrung mit der Kosmographie habe ich jedoch eine ziemlich gute Vorstellung davon, was darin enthalten sein dürfte: eine Art Vergrößerungsfunktion, die Möglichkeit, schwache Bilder vor einem unruhigen Hintergrund zu erkennen, und die Bildstabilisierung zum Ausgleich einer unruhigen Hand.«
»Das meinst du also mit einer auf gewissen Kenntnissen beruhenden Vermutung«, sagte Spelikon. »Insofern auf Kenntnissen beruhend, als jeder Mensch mit einem Grundwissen über kosmographische Geräte in der Lage wäre, zu folgern, was du über das Leistungsvermögen von Flecs Spulocorder gefolgert hast.«
»Ja.«
»In deinem Tagebuch heißt es«, fuhr Spelikon fort, »dass Fraa Orolos Hand unmittelbar danach auf dein Handgelenk niederfiel und dich am Weiterschreiben hinderte. Warum?«
»Da er älter und weiser ist«, sagte ich, »sah Orolo, wo das Gespräch hinsteuerte. Quin war im Begriff, in eine Plauderei über säkulare Dinge und das, was zwischen Flec und den Ita passiert war, zu geraten, was offenkundig nicht die Art von Information ist, der wir ausgesetzt werden sollten.«
»Wenn deine Ohren ihr aber sowieso ausgesetzt sein würden, warum hat Orolo dann deine Hand festgehalten? Warum hat er dir nicht die Ohren zugestopft?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht war es nicht das Logischste, was er tun konnte. Menschen denken in solchen Momenten nicht immer klar.«
»Außer, wenn sie es tun«, sagte Spelikon. »Na, jedenfalls ist das alles, was ich in Bezug auf das Gespräch zwischen Orolo und Quin für dich habe. Bleibt nur noch eine Frage.«
»Ja?«
»Wo warst du in der neunten Nacht der Apert?«
Die Stirn gerunzelt, dachte ich einen Moment nach. »Das ist eine dieser einfach klingenden Fragen, die für einen normalen Menschen schwer zu beantworten sind.«
Spelikon beeilte sich fast zu sehr, mir beizupflichten. »Falls du mit ›normaler Mensch‹ einen ›Nicht-Hierarchen‹ meinst, dann lass mich dir versichern, dass ich mich nicht genau erinnere, was ich an diesem Abend gemacht habe.«
»Na ja, ich war für eine Führung am nächsten Morgen eingeteilt und bin deshalb nicht lange aufgeblieben. Ich habe zu Abend gegessen. Dann bin ich höchstwahrscheinlich schlafen gegangen. Mir gingen viele Gedanken durch den Kopf.«
»Tatsächlich?«, fragte Spelikon. »Worüber?«
Ich musste einen sehr seltsamen Blick bekommen haben. Er gluckste und sagte: »Ich bin einfach neugierig. Aber das spielt wohl keine Rolle.« Er zog ein anderes Blatt hervor. »Der Chronik zufolge solltest du in dieser Nacht eine Zelle mit Fraa Branch und Fraa Ostabon teilen. Wenn ich sie fragen würde, würden sie beide sagen, dass du in dieser Nacht bei ihnen in der Zelle warst?«
»Ich wüsste nicht, warum sie irgendwas anderes sagen sollten.«
»Sehr gut«, sagte Spelikon, »das ist dann alles. Danke für deine Zeit, Fraa Erasmas.«
Spelikon öffnete mir die Tür. Ich trat hindurch und erblickte Fraa Branch und Fraa Ostabon, die im Wandelgang warteten.
Meine Gabe, mir Dinge auszumalen und im Kopf Geschichten zurechtzulegen, ließ mich an diesem Abend im Stich, als wäre sie in Urlaub gegangen. Aus der Unterredung mit Spelikon wurde ich nicht schlau. Ich betrachtete sie als weiteren Beweis dafür, dass Suur Trestanas angeschlagen war und bald ins Ärztekolleg geschickt werden würde, damit sie sich – hoffentlich sehr langsam – wieder erholte.
Am nächsten Tag war ich früh auf den Beinen, um beim Servieren des Frühstücks zu helfen. Den Vormittag verbrachte ich mit Barb in einem Schreibsaal, wo wir uns mit ein paar Grundbegriffen der Äußeren Analysis beschäftigten, die ich bereits Jahre zuvor hätte verstehen sollen, aber erst jetzt wirklich in den Griff bekam. Als ich den Punkt erreichte, wo mein Gehirn nichts mehr aufnehmen konnte, und mich selbst bei dummen Fehlern ertappte, läutete es zur Provene.
Das war einer der Tage, an denen meine alte Mannschaft die Uhr aufziehen sollte, und so ging ich zum Mynster. Es war spärlich besucht, auch von Hierarchen. Ich sah weder Fraa Orolo noch einen seiner älteren Studenten, und Jesry tauchte auch nicht auf, sodass
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