Anathem: Roman
nachdem ich die Tafel in das Auge der Clesthyra geschoben hatte, hatte jemand anderes in diesem Konzent davon erfahren.
Sammann stand noch einen Moment grübelnd da. Dann faltete er die Schutzhülle zusammen, steckte sie in eine Brusttasche seines Mantels, kehrte mir den Rücken zu und ging davon.
Ich bewegte die Tafel weiter zu einer bewölkten Nacht, wodurch ich mich selbst in nahezu vollständige Dunkelheit tauchte, und dann saß ich da in diesem Loch im Boden und versuchte, darüber hinwegzukommen.
Mir fiel der Abend neulich ein, als ich Orolo wegen mangelnder Vorsicht kritisiert und meinen Freunden erzählt hatte, ich würde viel besser aufpassen. Was war ich doch für ein Idiot!
Während ich beobachtete, wie Sammann die Schutzhülle aufhob und zwei und zwei zusammenzählte, war ich rot angelaufen, und mein Herz hatte gepocht, als wäre ich tatsächlich mit ihm oben auf dem Pinakel. Doch das war nur eine Aufzeichnung von etwas, das vor Monaten passiert war. Und daraus war nichts erfolgt. Allerdings konnte Sammann jederzeit die Katze aus dem Sack lassen.
Das war zermürbend. Aber ich konnte nichts daran ändern. Mich wegen eines Fehlers zu schämen, den ich vor Monaten gemacht hatte, war reine Zeitverschwendung. Jetzt galt es eher darüber nachzudenken, was ich tun sollte. Hier im Dunkeln sitzen und mir Sorgen machen? Oder weiter den Inhalt dieser Tafel studieren? Wenn das die Alternative war, fiel die Antwort nicht schwer. Die rasende Wut, die von meinen Eingeweiden Besitz ergriffen hatte, war eine Art von Wut, die eine Aktion zur Folge haben musste. Diese brauchte nicht überraschend oder dramatisch auszufallen. Hätte ich mich einem der anderen Orden angeschlossen, hätte ich vielleicht meine ganze Laufbahn auf einer solchen Aktion aufgebaut. Mit meiner Wut als
Antrieb hätte ich die nächsten zehn oder zwanzig Jahre damit verbracht, mich in den Reihen der Hierarchen hochzuarbeiten, immer auf der Suche nach Möglichkeiten, denen, die Orolo Unrecht getan hatten, das Leben schwer zu machen. Tatsache war aber, dass ich mich durch meinen Beitritt bei den Edhariern hinsichtlich der politischen Vorgänge innerhalb des Konzents selbst aller Mittel beraubt hatte. Daher neigte ich zu der Vorstellung, Fraa Spelikon umzubringen. Meine Wut war so groß, dass das eine Zeitlang tatsächlich eine Option war und ich mich hin und wieder beim Nachdenken darüber ertappte, wie ich dabei zu Werke gehen sollte. In der Küche gab es eine Menge großer Messer.
Deshalb konnte ich von Glück sagen, dass ich diese Tafel hatte, und einen Ort, um sie anzuschauen. Es gab mir etwas, was ich in Angriff nehmen konnte – das heißt, etwas außer Fraa Spelikons Kehle. Wenn ich hart genug daran arbeitete und Glück hatte, könnte ich vielleicht mit einem Ergebnis aufwarten, das ich eines Abends zu Spelikons, Trestanas’ und Strathos Schmach im Refektorium verkünden könnte. Dann könnte ich voller Abscheu aus dem Konzent hinausstürmen, noch ehe sie dazu kämen, mich auszustoßen.
Bis dahin entsprach das Studium dieser Tafel meinem zutiefst empfundenen Bedürfnis, auf das zu reagieren, was Orolo zugefügt worden war. Und ich hatte festgestellt, dass ein solches Vorgehen die einzige Möglichkeit war, meine Wut wieder in Kummer zurückzuverwandeln. Und wenn ich bekümmert – statt wütend – war, gingen die jungen Fids mir nicht mehr aus dem Weg, und mein Kopf war nicht mehr voll mit Bildern von Blut, das aus Fraa Spelikons durchtrennten Adern herausschoss.
Ich hatte also keine andere Wahl, als Sammann und die Staubabdeckung aus meinem Bewusstsein zu verdrängen und mich stattdessen auf das zu konzentrieren, was das Auge der Clesthyra nachts gesehen hatte. Während dieser siebenundsiebzig Nächte hatte ich über das Wetter Protokoll geführt. Mehr als die Hälfte waren bewölkt gewesen. Nur in siebzehn Nächten hatte man wirklich klare Sicht gehabt.
Nachdem meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, war es kein Problem, auf diesem Ding Norden zu finden, denn das war der Pol, den alle Sterne umkreisten. Wenn das Bild eingefroren war oder mit einigermaßen normaler Geschwindigkeit wiedergegeben wurde, erschienen die Sterne als feststehende Lichtpunkte.
Spielte ich es jedoch schneller ab, beschrieb jeder Stern mit Ausnahme des Polarsterns einen Bogen um den Pol als Zentrum, während Arbre sich darunter drehte. Unsere aufwändigeren Teleskope hatten von der Uhr angetriebene Polarachsensysteme, die dieses Problem
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