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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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gab, sah es komplizierter aus:
Wenn ich es aber lange genug anschaute, konnte ich darin verschiedene aufeinandergestapelte Tortendiagramme erkennen.
    »Es ist eine Enttäuschung«, sagte ich beim Abendessen zu Jesry. Irgendwie hatten wir es geschafft, Barb zu entwischen und zusammen in einer Ecke des Refektoriums zu sitzen.
    »Wie bitte?«

    »Ich hatte wohl gedacht, wenn ich in einer polaren Umlaufbahn irgendetwas sähe, wäre das das Ende. Rätsel gelöst, Fall abgeschlossen. Aber so ist es nicht. Es gibt etliche Satelliten in polaren Umlaufbahnen. Vermutlich schon seit dem Praxischen Zeitalter. Alte gehen kaputt und fallen runter. Die Zampanos schießen neue in den Weltraum.«
    »Das ist kein neues Ergebnis«, bemerkte er. »Wenn du bei Nacht hinausgehst, dich mit dem Gesicht nach Norden hinstellst und lange genug wartest, kannst du mit bloßem Auge diese Dinger über den Pol rasen sehen.«
    Ich kaute auf einem Bissen herum, während ich innerlich gegen den Impuls ankämpfte, ihm einen Schlag auf die Nase zu verpassen. Aber so liefen die Dinge in der Theorik nun mal. Es waren nicht nur die Loriten, die sagten: Das ist kein neues Ergebnis . Das Rad wurde andauernd neu erfunden. Daran war nichts Schändliches. Wenn wir übrigen aber in Ohs und Ahs ausbrachen und, nur damit es dieser Person gut ging, riefen: »Donnerwetter, ein Rad, dass daran aber noch niemand gedacht hat!«, würde nie irgendetwas zustande kommen. Dennoch versetzte es einem einen Stich, wenn man so viel riskiert und so viel Arbeit investiert hatte, um ein Ergebnis zu erzielen, nur um dann zu hören, dass es nichts Neues war.
    »Ich behaupte ja gar nicht, dass es ein neues Ergebnis ist«, sagte ich mit ausgesuchter Geduld zu ihm. »Ich teile dir nur mit, was passiert ist, als ich zum ersten Mal die Gelegenheit hatte, ein paar Stunden mit der Tafel zuzubringen. Und außerdem stelle ich wohl eine Frage.«
    »Na schön. Wie lautet die Frage?«
    »Fraa Orolo muss gewusst haben, dass sich etliche Satelliten in polaren Umlaufbahnen befinden und dass das keine große Sache ist. Für einen Kosmographen ist das nichts Ungewöhnlicheres als ein Luftfahrzeug, das über ihn hinwegfliegt.«
    »Eine Belästigung. Eine Ablenkung«, sagte Jesry mit einem Kopfnicken.
    »Was gab es da bloß zu sehen, was ihm so wichtig war, dass er dafür Anathem riskierte?«
    »Er riskierte Anathem nicht einfach. Er …«
    Ich winkte ab. »Du weißt, was ich meine. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Kefedokhles zu spielen.«
    Jesry starrte über meine linke Schulter ins Leere. Die meisten anderen
hätte meine Bemerkung in Verlegenheit gebracht oder geärgert. Ihn nicht! Es hätte ihm nicht weniger ausmachen können. Wie ich ihn beneidete! »Wir wissen, dass er einen Spulocorder brauchte, um es zu sehen«, sagte Jesry. »Das bloße Auge reichte nicht aus.«
    »Er musste das alles auf andere Weise sehen. Er konnte keine Langzeitbelichtungen auf einer Tafel machen«, fügte ich hinzu.
    »Das Beste, was er nach der Schließung des Sternrunds tun konnte, war, sich draußen in diesen Weingarten zu stellen und, während er sich den Arsch abfror, durch den Spulocorder den Polarstern zu betrachten. In der Erwartung, dass irgendetwas vorbeiflitzte.«
    »Als es dann auftauchte, sauste es innerhalb kürzester Zeit quer über den Sucher«, sagte ich. Wir vervollständigten jetzt gegenseitig unsere Sätze. »Und dann? Was hatte er wohl daraus gelernt?«
    »Die Zeit«, sagte Jesry. »Er wusste, wie viel Uhr es war.« Er verlagerte den Blick auf die Tischplatte, als wäre sie ein Spulo von Orolo. »Er notiert sie sich. Neunzig Minuten später schaut er wieder hoch. Er sieht denselben Vogel das nächste Mal den Pol überfliegen.« Lio nannte Satelliten Vögel – das war Armeejargon, den er sich aus Büchern angeeignet hatte -, und wir Übrigen hatten den Begriff übernommen.
    »Das klingt ungefähr so interessant wie das Betrachten des Stundenzeigers an einer Uhr«, sagte ich.
    »Ja, aber vergiss nicht, dass es mehr als einen von diesen Vögeln gibt«, erwiderte er.
    »Wie soll ich das vergessen – ich habe ja den ganzen Nachmittag damit zugebracht, sie anzustarren!«, erinnerte ich ihn.
    Doch Jesry war einer Idee auf der Spur und hatte keine Zeit für mich und meine kleinkarierte Verärgerung. »Ihre Umlaufbahnen können nicht alle in derselben Höhe liegen«, sagte er. »Manche müssen höher sein als andere – die dürften dann längere Intervalle haben. Statt neunzig Minuten brauchen

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