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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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beseitigten. Diese Teleskope drehten sich mit derselben Geschwindigkeit »rückwärts«, wie Arbre sich »vorwärts« drehte, sodass die Sterne über ihnen feststanden. Das Auge der Clesthyra war nicht damit ausgestattet.
    Der Tafel konnte man befehlen, auf unterschiedliche Weise zu zeigen, was sie gesehen hatte. Bis jetzt hatte ich sie wie einen Spulocorder mit Knöpfen für Wiedergabe, Pause und Schnellen Vorlauf benutzt. Sie hatte aber Funktionen, die ein Spulocorder nicht hatte, wie zum Bespiel die Integration eines Bildes über einen gewissen Zeitraum hinweg. Das war ein Echo aus dem Praxischen Zeitalter, als Kosmographen anstelle von Tafeln wie dieser hier Platten verwendet hatten, die mit lichtempfindlichen Chemikalien beschichtet waren. Da viele der Objekte, die sie sich anschauten, nur schwach sichtbar waren, mussten sie diese Platten oft stundenlang belichten. Eine photomnemonische Tafel funktionierte auf beide Arten. Wenn man eine solche Aufnahme im Spulocorder-Modus abspielte, sah man vielleicht nicht mehr als ein paar Sterne und ein bisschen Dunst, aber wenn man die Tafel so konfigurierte, dass sie das über die Zeit integrierte Standbild zeigte, konnte es sein, dass eine Spiralgalaxie oder ein Spiralnebel zum Vorschein kam.
    Mein erstes Experiment bestand also darin, eine Nacht auszusuchen, die klar gewesen war, und die Tafel so zu konfigurieren, dass sie das gesamte Licht, das das Auge der Clesthyra in dieser Nacht aufgenommen hatte, in ein einziges Standbild integrierte. Die ersten Ergebnisse waren nicht besonders gut, weil ich den Start zu früh und den Stopp zu spät gesetzt hatte, sodass alles durch die Helligkeit nach der Abend- und vor der Morgendämmerung ausgewaschen war. Nachdem ich aber ein paar Korrekturen vorgenommen hatte, bekam ich das Bild, das ich haben wollte.
    Es war eine schwarze Scheibe, überzogen mit Tausenden feiner konzentrischer Bahnen, von denen jede eine Spur war, die ein bestimmter Stern oder Planet hinterlassen hatte, während Arbre sich darunter drehte. Dieses Bild war mehrfach von gepunkteten roten Linien und leuchtend weißen Streifen durchkreuzt: den Spuren, die die Lichter von Luftfahrzeugen im Vorbeifliegen an unserem Himmel
erzeugt hatten. Die in der Mitte stammten von hoch fliegenden Maschinen und verliefen nahezu gerade. Auf einer Seite in Randnähe war das Sternenfeld nahezu ausgelöscht durch ein Bündel dicker weißer Kurven: Luftfahrzeuge im Landeanflug auf das örtliche Aerodrom, alle mehr oder minder in derselben Gleitbahn.
    Nur ein einziges Ding an diesem ganzen Firmament bewegte sich nicht: der Polarstern. Falls unsere Hypothese zu der Frage, was Orolo gesucht hatte – nämlich irgendetwas in einer polaren Umlaufbahn -, stimmte, dann musste das, vorausgesetzt, es war hell genug, um auf diesem Ding sichtbar zu sein, als ein unweit des Polarsterns vorbeiführender Streifen aufgezeichnet worden sein. Er müsste ganz oder annähernd gerade und im rechten Winkel zu den unzähligen Bögen verlaufen, die die Sterne beschrieben – er würde sich in Nord-Süd-Richtung, sie dagegen in Ost-West-Richtung bewegen.
    Nicht nur das, sondern ein solcher Satellit müsste mehr als einen solchen Streifen pro Nacht erzeugen. Jesry und ich hatten das ausgerechnet. Ein Satellit in einer niedrigen Umlaufbahn müsste Arbre in etwa anderthalb Stunden ein Mal komplett umkreisen. Falls er nun einen Streifen auf die Tafel machte, während er, sagen wir, um Mitternacht den Pol überflog, musste er gegen ein Uhr dreißig wieder einen machen, den nächsten um drei und dann wieder einen

um vier Uhr dreißig. Hinsichtlich der Fixsterne musste er immer in derselben Ebene bleiben. Doch in jedem dieser Neunzigminutenintervalle würde Arbre durch zweiundzwanzigeinhalb Längengrade rotieren. Deshalb würden die aufeinanderfolgenden Streifen, die ein bestimmter Satellit erzeugte, in der Aufzeichnung nicht aufeinander liegen. Sie müssten durch Winkel von ungefähr zweiundzwanzigeinhalb Grad (oder in der Winkelmaßeinheit der Theoriker pi/8) voneinander getrennt sein und wie Schnitte auf einer Torte aussehen.
    Meine Arbeit an diesem ersten Tag in dem Keller bestand darin, die Tafel eine Langzeitaufnahme für die erste sternklare Nacht machen zu lassen, dann den Bereich rund um den Polarstern heranzuzoomen und nach etwas Ausschau zu halten, das Ähnlichkeit mit einem Tortendiagramm hatte. Das gelang mir so leicht, dass ich schon fast enttäuscht war. Da es mehr als nur einen solchen Satelliten

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