Anathem: Roman
paar Minuten übersprungen hatte, konnte ich das Luftfahrzeug wieder in die andere Richtung fliegen sehen, diesmal mit dem Gesicht von Fraa Paphlagon, eingerahmt in einem Seitenfenster, wie er auf den Konzent zurückschaute, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen.
Indem ich dann meinen Finger ein kurzes Stück seitlich an der Tafel nach oben schob, konnte ich die Sonne ihren Bogen über die Himmelsscheibe vollenden und hinter dem Horizont versinken lassen. Die Tafel wurde dunkel. Sterne mussten zwar aufgenommen worden sein, aber meine Augen konnten sie nicht sonderlich gut erkennen, weil sie sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Ein paar rote Kometen – die Lichter von Luftfahrzeugen – bewegten sich blinkend quer über die Tafel. Dann wurde sie wieder hell, und die Sonne explodierte vom Rand her und trat am nächsten Morgen wieder ihren Weg über den Himmel an.
Wenn ich meinen Finger in einer fortlaufenden Bewegung die ganze Seite der Tafel entlang nach oben gleiten ließ, blitzte sie wie ein Stroboskoplicht: insgesamt achtundsiebzig Blitze, einen pro Tag, den die Tafel im Auge der Clesthyra gesteckt hatte. Als ich gegen Ende die Wiedergabe verlangsamte, konnte ich mir selbst zuschauen, wie ich während Fraa Orolos Anathem am oberen Treppenabsatz auftauchte und mich dem Auge näherte, um die Tafel herauszuholen. Diesen Teil davon hasste ich jedoch wegen des Ausdrucks auf meinem Gesicht. Ich schaute ihn mir nur ein einziges
Mal an, um sicherzugehen, dass die Tafel bis zu dem Moment aufgenommen hatte, als ich sie herauszog.
Ich löschte die ersten und letzten paar Sekunden der Aufnahme, sodass die Tafel, falls sie beschlagnahmt würde, keine Bilder von mir enthielt. Dann begann ich, sie mir noch einmal mehr im Detail anzuschauen. Arsibalt hatte erwähnt, dass er einen Ita darin gesehen hatte. Tatsächlich reichte am zweiten Tag kurz nach Mittag eine dunkle Ausbuchtung vom Rand aus herein und verdeckte für einen Moment den größten Teil des Himmels. Ich spulte zurück und stellte die Wiedergabe auf normale Geschwindigkeit. Es war einer der Ita. Mit einer Sprühflasche und einem Lappen in der Hand näherte er sich von der Treppe her. Nachdem er den Zenitspiegel gesäubert hatte, kam er zum Auge der Clesthyra – da wurde sein Bild wirklich riesig – und sprühte Reinigungsflüssigkeit darauf. Ich zuckte, als würde mir das Zeug ins Gesicht gesprüht. Er polierte sorgfältig nach. Dabei konnte ich bis in seine Nasenlöcher sehen und die Härchen dort zählen; ich konnte die winzigen Adern in seinen Augäpfeln und die feinen Streifen in seiner Iris erkennen. Nun stand außer Frage, dass es sich um Sammann handelte, den Ita, auf den Jesry und ich zufällig in Cords Maschinenhalle gestoßen waren. Unmittelbar darauf wurde er, während er von dem Auge zurücktrat, zusehends kleiner. Die oberste Ebene des Pinakels verließ er jedoch nicht sofort. Eine ganze Weile stand er da, dann war er plötzlich nicht mehr zu sehen, tauchte wieder auf, kam näher und hielt sich kurz im Auge der Clesthyra auf, bevor er endgültig fortging.
Ich zoomte die Aufnahme heran und schaute mir dieses letzte Stück noch einmal an. Nachdem er das Objektiv poliert hatte, senkte er den Blick, als hätte er etwas fallen lassen. Er bückte sich, wodurch alles außer seinem Rücken über den Rand der Tafel hinaus verschwand. Als er sich aufrichtete und wieder als Ausbuchtung ins Bild kam, hatte er etwas Neues in der Hand: einen rechteckigen Gegenstand, der etwa die Größe eines Buches hatte. Ich brauchte es nicht näher zu zoomen, um zu wissen, was es war: die Schutzhülle, die ich am Tag zuvor von ebendieser Tafel abgezogen hatte. Der Wind hatte sie mir aus der Hand gerissen, und in meiner Eile, fortzukommen, hatte ich sie idiotischerweise da liegen lassen, wo sie hinuntergefallen war.
Sammann untersuchte sie, wobei er sie von allen Seiten betrachtete. Nach einer Weile schien ihm zu dämmern, was es war. Sein
Kopf fuhr zu mir herum – oder besser, zum Auge der Clesthyra. Er kam näher und spähte ins Objektiv, senkte dann den Blick, streckte die Hand nach unten und stieß (wie ich vermutete, obwohl ich es nicht sehen konnte) an die kleine Klappe, die den Tafelschlitz bedeckte. Sein Gesicht registrierte irgendetwas. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich seine Augäpfel heranzoomen und sehen können, was sich in ihnen widerspiegelte. Das brauchte ich aber gar nicht, da seine Miene alles sagte.
Weniger als vierundzwanzig Stunden,
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