Anathem: Roman
Schneidersitz auf der Plane und arbeitete mit der Tafel. Wenn ich damit fertig war, ging ich durch die Kellerräume wieder nach oben. Bevor ich die Steinplattenstufen hinaufstieg, hielt ich nach einem anderen Zeichen Ausschau: Falls sonst noch jemand im Haus war, schloss Arsibalt die Tür am oberen Treppenabsatz, aber wenn er allein war, ließ er sie einen Spalt offen.
Einer der vielen Vorteile von photomnemonischen Tafeln gegenüber normalen Phototypien war der, dass sie ihr eigenes Licht erzeugten, sodass man im Dunkeln mit ihnen arbeiten konnte. Diese Tafel begann und endete mit Tageslicht. Wenn ich sie bis ganz an den Anfang zurücklaufen ließ, wurde sie zu einer nichtssagenden Lache aus weißem Licht mit einem leichten Blaustich: das nicht fokussierte Licht von Sonne und Himmel, das die Tafel überschwemmt hatte, nachdem ich sie während Fraa Paphlagons Voko oben auf dem Pinakel aktiviert hatte. Wenn ich sie nun in den Wiedergabemodus schaltete, konnte ich einen kurzen, witzig anmutenden Übergang aus der Phase sehen, als sie in das Auge der Clesthyra gesteckt worden
war, und dann plötzlich ein Bild, vollkommen scharf und klar, aber geometrisch verzerrt.
Der größte Teil der Scheibe gab ein Bild des Himmels wieder. Die Sonne war ein sauberer, nicht in der Mitte liegender weißer Kreis. Um den Rand der Tafel herum befand sich ein dunkler, unebener Saum, ähnlich der schimmeligen Rinde an einem Käserad: der Horizont, insgesamt gesehen, in jeder Richtung. In dieser Fischaugengeometrie bedeutete »unten« aus Sicht von uns Menschen – d. h. in Richtung Boden – immer nach außen zum Rand der Tafel hin, »oben« dagegen immer nach innen zur Mitte hin. Wenn mehrere Leute in einem Kreis um das Auge der Clesthyra gestanden hätten, wären ihre Hüften an der äußeren Begrenzung des Bildes erschienen, und ihre Köpfe hätten wie die Speichen eines Rades nach innen geragt.
Am äußeren Rand war die Tafel so mit Informationen vollgepackt, dass ich ihre Schwenk- und Zoomfunktionen verwenden musste, um daraus schlau zu werden. Die helle Himmelsscheibe schien an einer Stelle eine tiefe dunkle Einkerbung zu haben. Bei näherem Hinsehen entpuppte sie sich als der Sockel des Zenitspiegels, der unmittelbar neben dem Auge der Clesthyra stand. Wie der Nordpfeil auf einer Landkarte gab er mir einen Bezugspunkt, anhand dessen ich mich orientieren und andere Dinge ausmachen konnte. Ungefähr auf der Hälfte des Randes von dort aus befand sich eine noch breitere, flachere Einkerbung in der Himmelsscheibe, die schwer zuzuordnen war. Doch wenn ich sie richtig umdrehte und meinen Augen Zeit ließ, sich an die Verzerrung zu gewöhnen, konnte ich erkennen, dass es eine menschliche Gestalt war, eingehüllt in eine Kulle, die alles außer einer Hand und einem Unterarm bedeckte. Diese waren strahlenförmig nach außen (also nach unten) ausgestreckt und wurden auf groteske Weise überdimensional groß, bevor sie von der Kante der Tafel abgeschnitten wurden. Dieses Ungeheuer war ich, zum Schlitz unterhalb des Auges hinabgebeugt, nachdem ich gerade die Tafel hineingesteckt und die Staubabdeckung befestigt hatte. Als ich das zum ersten Mal sah, musste ich laut lachen, weil es meinen Ellbogen so groß wie den Mond aussehen ließ und ich, als ich ihn herangezoomt hatte, einen Leberfleck sehen und die Haare und Sommersprossen zählen konnte. Das Bemühen, meine Identität zu verbergen, indem ich meine Kapuze aufsetzte, war ein Witz gewesen! Hätte Suur Trestanas diese
Tafel in die Finger bekommen, hätte sie den Schuldigen ausfindig machen können, indem sie sich bei jedem Einzelnen von uns den rechten Ellbogen anschaute.
Beim Vorwärtslauf der Tafel konnte ich sehen, dass die Einkerbung-die-ich-war im Weggehen mit dem dunklen Horizontrand verschmolz. Wenige Augenblicke später flitzte nah am Rand ein dunkles Staubpartikelchen in einem weiten Bogen über die Tafel: das Luftfahrzeug, das Fraa Paphlagon zu den Zampanos brachte. Nachdem ich das Bild angehalten und herangezoomt hatte, konnte ich das Luftfahrzeug deutlich und wegen seiner großen Entfernung weniger verzerrt sehen: die Rotoren und die Abgasströme aus seinen Motoren waren eingefroren; das zum größten Teil durch ein dunkles Visier verdeckte Gesicht des Piloten lag im hellen Sonnenlicht, das durch die Frontscheibe fiel; er hatte den Mund leicht geöffnet, als spräche er in das Mikrophon, das sich seitlich an seiner Wange entlang bog. Nachdem ich im schnellen Vorlauf ein
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