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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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ja Lio, um den es hier ging.
    »Ich möchte, dass du mich ins Gesicht schlägst«, sagte er. Als bäte er mich, ihn am Rücken zu kratzen.
    »Nicht, dass ich davon nicht schon immer geträumt hätte«, sagte ich, »aber warum willst du das?«
    »Nahkampf gehört von jeher zur militärischen Ausbildung«, referierte er, als wäre er ein Fid. »Vor langer Zeit hat man festgestellt, dass Rekruten – egal wie gut sie ausgebildet worden waren – die Tendenz hatten, alles Gelernte zu vergessen, sobald sie zum ersten Mal einen Schlag ins Gesicht bekamen.«
    »Zum ersten Mal in ihrem Leben , meinst du?«
    »Ja. In friedlichen, wohlhabenden Gesellschaften, in denen Schlägereien nicht gerne gesehen sind, ist das ein gängiges Problem.«
    »Nicht oft ins Gesicht geschlagen zu werden, ist ein Problem ?«
    »Ja«, sagte Lio, »wenn du zur Armee gehst und dich im Nahkampf mit jemandem wiederfindest, der dich tatsächlich umzubringen versucht.«
    »Aber Lio«, sagte ich, »du hast doch schon Schläge ins Gesicht bekommen. Bei der Apert. Erinnerst du dich?«
    »Ja«, sagte er, »und ich habe versucht, aus dieser Erfahrung zu lernen.«
    »Warum soll ich dich dann noch mal ins Gesicht schlagen?«
    »Damit ich herausfinde, ob ich tatsächlich etwas gelernt habe.«
    »Warum ich? Warum nicht Jesry? Er scheint mir eher der Typ dazu zu sein.«
    »Das ist ja das Problem.«
    »Verstehe. Und warum nicht Arsibalt?«
    »Er würde es nicht im Ernst machen – und sich dann noch beschweren, dass er sich die Hand verletzt hätte.«
    »Was wirst du den Leuten sagen, wenn du mit ramponiertem Gesicht zum Abendessen erscheinst?«
    »Dass ich mit Bösewichten gekämpft habe.«
    »Noch ein Versuch.«
    »Dass ich das Fallen geübt habe und falsch gelandet bin.«
    »Und wenn ich mir die Hand nicht ruinieren will?«
    Mit einem Lächeln zauberte er ein Paar schwere Arbeitshandschuhe aus Leder hervor. »Falls du davor Angst hast, stopf dir Lumpen unter die Knöchel«, empfahl er mir, während ich sie anzog.
    Die Grandsuurs Tamura und Ylma trieben auf einem Stechkahn
vorbei. Wir gaben vor, Unkraut zu jäten, bis sie außer Sicht waren.
    »Gut«, sagte Lio, »mein Ziel ist es, eine einfache Wurftechnik an dir durchzuführen …«
    »Ach, das erzählst du mir jetzt !«
    »Nichts, was wir nicht schon hundert Mal gemacht haben«, sagte er, als würde mich das beruhigen. »Deshalb sind wir hierhergekommen.« Er stampfte mit dem Fuß auf den feuchten Sand am Flussufer. »Weicher Boden.«
    »Warum …?«
    »Falls ich meine Hände hochnehme, um mein Gesicht zu schützen, werde ich nicht imstande sein, mein Ziel zu erreichen.«
    »Kapiert.«
    Plötzlich fiel er über mich her und warf mich zu Boden. »Du hast verloren«, verkündete er im Aufstehen.
    »Na gut«, seufzte ich und rappelte mich hoch. Im selben Moment wirbelte er herum und warf mich wieder hin. Ich führte einen spielerischen Schlag gegen seinen Kopf, viel zu spät. Diesmal warf er mich viel härter zu Boden. Jeder, der kleinen Muskeln in meinem Kopf fühlte sich gezerrt an. Er legte eine schmutzige Hand auf mein Gesicht und stieß sich ab, um wieder auf die Füße zu kommen. Die Botschaft war klar.
    Beim nächsten Mal versuchte ich es im Ernst, aber ich hatte keinen sicheren Stand und keinen besonders harten Schlag. Außerdem kam Lio zu tief rein.
    Das Mal danach achtete ich darauf, meinen Schwerpunkt nach unten zu verlagern, stemmte die Füße fest in den feuchten Sand, ließ die Faust aus der Hüfte heraus vorschnellen und verpasste ihm einen Schlag direkt auf den Wangenknochen. »Gut!«, stöhnte er, als er von mir herunterkletterte. »Schau aber mal, ob du mich richtig lahmlegen kannst – darum geht es nämlich, erinnerst du dich?«
    Ich glaube, wir haben es ungefähr noch zehn Mal gemacht. Da ich viel schlimmer malträtiert wurde als er, verlor ich irgendwie den Überblick. Bei meinem besten Versuch hatte ich es geschafft, ihn einen Moment lang aus dem Konzept zu bringen – und trotzdem warf er mich zu Boden.
    »Wie lange machen wir das jetzt noch?«, fragte ich aus einem Krater in Erasmasform heraus, auf dessen Grund ich lag. Wenn ich einfach nicht aufstand, konnte er mich nicht hinwerfen.

    Mit beiden Händen schöpfte er Wasser aus dem Fluss, spritzte es sich ins Gesicht und spülte das Blut von Nasenlöchern und Augenbrauen ab. »Das müsste genügen«, sagte er. »Ich habe erfahren, was ich erfahren wollte.«
    »Nämlich?«, fragte ich, während ich es wagte, mich aufzusetzen.
    »Dass ich

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