Anathem: Roman
raus hatte, brauchte ich ungefähr eine halbe Stunde, um die Tafel so zu konfigurieren, dass sie mir die Langzeitbelichtung für eine bestimmte Nacht gab. Etwa eine weitere halbe Stunde dauerte es, bis ich mithilfe eines Goniometers die Winkel zwischen Streifen gemessen hatte. Wie Jesry vorausgesagt hatte, bildeten manche Vögel etwas größere Winkel als andere, was ihre längeren Intervalle wiedergab, aber für einen bestimmten Vogel war der Winkel immer derselbe, jede Nacht, bei jeder Umlaufbahn. In gewisser Hinsicht hätte es daher nur der Beobachtungen einer einzigen Nacht bedurft, um einen groben Entwurf der Erhebung zu machen. Aber ich zog es durch und machte es, der Vollständigkeit halber, trotzdem für alle siebzehn klaren Nächte; außerdem hatte ich, um ehrlich zu sein, keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte. Jedes Mal, wenn ich Gelegenheit hatte, in dieses Kellergeschoss hinunterzusteigen, konnte ich die Beobachtungen von einer, manchmal auch zwei Nächten erledigen, aber diese Gelegenheit bot sich nicht jeden Tag.
Am Ende hatte ich ungefähr drei Wochen daran gesessen. An den Seitenbäumen waren die Knospen draußen. Vögel flogen gen Norden. Fraas und Suurs stocherten in ihren Strüppen herum und stritten sich über die Frage, ob es die richtige Zeit zum Pflanzen war. Die barbarische Unkrauthorde nahm am Flussufer Aufstellung und bereitete sich darauf vor, in die fruchtbare Ebene von Thrania einzufallen. Arsibalt hatte sich zu zwei Dritteln durch seinen Paphlagon-Stapel gearbeitet. Bis zur Frühlingstagundnachtgleiche waren es nur noch ein paar Tage. Die Apert hatte am Morgen der Herbsttagundnachtgleiche begonnen – vor einem halben Jahr! Mir war schleierhaft, wo die Zeit geblieben war.
Sie war genau dahin gegangen, wohin sie all die Tausende von Jahren zuvor auch gegangen war. Ich hatte sie arbeitenderweise verbracht. Es spielte keine Rolle, dass meine Arbeit geheim war, verboten, und dass sie zu meiner Verstoßung hätte führen können. Dem Konzent war das gleichgültig. Bestimmten Personen wäre es ganz und gar nicht gleichgültig gewesen. Aber das hier war ein Ort,
wo die Avot ihr Leben damit verbrachten, an solchen Projekten zu arbeiten. Und jetzt, wo ich ein Projekt hatte , gehörte ich auf eine Weise zu diesem Konzent, wie ich es noch nie erlebt hatte, und der Ort war genau der richtige für mich.
Da Arsibalt, Jesry und Tulia mit ihren Gedanken bei anderen Projekten waren, erzählte ich ihnen nicht von Sammann. Dieses Thema bewahrte ich mir für Lio auf, als wir draußen auf der Wiese die Sternblüten vorsichtig dazu brachten, in die richtige Richtung zu wachsen. Beziehungsweise Lio, wie er nun einmal war, tat, was immer ihm sonst in letzter Zeit noch durch den Kopf geschossen war.
Auf den Verlust von Orolo hatten wir unterschiedlich reagiert. In meinem Fall waren es blutige Rachephantasien, die ich für mich behielt. Lio hatte sich von immer schrägeren Thadevarianten in Bann ziehen lassen. Zwei Wochen zuvor hatte er versucht, mein Interesse an Rechenthade zu wecken, die meiner Einschätzung nach auf die Geschichte von Diax und der Austreibung der Enthusiasten zurückzuführen war. Ich hatte mit der Begründung abgelehnt, dass ich keine Blutvergiftung bekommen wollte – ein zur Waffe umfunktionierter Rechen konnte einem massenweise Stichwunden zufügen. Letzte Woche hatte er dann lebhaftes Interesse an Schaufelthade entwickelt, und wir hatten viel Zeit damit verbracht, am Flussufer zu hocken und mit Steinen Spaten zu wetzen.
Als er mich eines Tages wieder zum Fluss hinunterführte, mutmaßte ich, dass es denselben Grund hatte. Er blickte sich jedoch ständig um und führte mich tiefer ins Gebüsch. Als Fid hatte ich an genug Geheimexpeditionen teilgenommen, um zu wissen, dass er die direkte Sicht zu den Fenstern der Regelwartin überprüfte. Alte Gewohnheiten machten sich bemerkbar; ich wurde still und bewegte mich von einem beschatteten Platz zum nächsten, bis wir eine Stelle erreicht hatten, wo der Fluss in einer Biegung die Uferböschung ausgewaschen hatte, wodurch ein vor Blicken schützender Überhang entstanden war. Zum Glück hatte hier gerade niemand eine Liaison. Das wäre sowieso ein ungünstiger Ort dafür gewesen: schmutziger Boden, jede Menge Insekten, eine hohe Wahrscheinlichkeit, von Avot gestört zu werden, die auf dem Fluss umherschipperten.
Lio wandte sich zu mir um. Fast befürchtete ich, er würde mir an die Wäsche gehen.
Aber nein. Schließlich war es
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