Anathem: Roman
ihre Kulle auf die doppelte Größe anzuwachsen, da die ganze Luft aus Ala entwich. Ihre Brust fiel zusammen, und ihr Kopf hing herunter. Die großen Augen schlossen sich für eine Weile. In dieser Situation wäre jedes andere Mädchen durchgedreht.
Es ist schwer zu beschreiben, wie abscheulich ich mir vorkam. Ich lehnte mich an die Wand und ließ, gleichsam in dem Versuch, aus meiner eigenen, fürchterlich schuldigen Haut zu schlüpfen, meinen Kopf dagegen schlagen. Es gab jedoch keinen Weg hinaus.
Sie hatte die Augen aufgeschlagen. Sie glänzten, sahen aber alles. Jeder, der dir so viel Aufmerksamkeit schenkt wie ich, das heißt niemand .
Mit fast unhörbarer Stimme sagte sie: »Du musst ein Bad nehmen.«
Ein einziges Mal in meinem Leben schaffte ich es sogar, die Zweideutigkeit zu erkennen. Doch da war Ala bereits gegangen.
Elf: Die Liste der Pflanzen, die, typischerweise wegen ihrer unerwünschten pharmakologischen Eigenschaften, intramuros verboten sind. Die Regel besagt, dass jedes in einem Math wachsende Exemplar, auf das man stößt, unverzüglich mitsamt seiner Wurzel ausgerissen und verbrannt und dass der Vorfall in der Chronik festgehalten werden muss. Die von Saunt Kartas ursprünglich aufgestellte Liste enthielt nur drei Pflanzen, aber dadurch, dass Arbre erforscht und immer wieder eine neue Spezies entdeckt wurde, erhöhte sich ihre Zahl über die Jahrhunderte hinweg.
DAS WÖRTERBUCH, 4. Auflage, A. R. 3000
Ich wäre Deolatist geworden und auf eine Pilgerreise von beliebiger Länge gegangen, um ein magisches Bad zu finden, das den Schlamassel wegspülte, den ich soeben angerichtet hatte. Die Entbehrungen der Reise hätte ich als angenehm empfunden, verglichen mit den nun folgenden ein oder zwei Wochen im Math. Nicht dass Ala irgendjemandem etwas erzählt hätte. Dazu war sie zu stolz. Aber all die anderen Suurs, angefangen bei Tulia, wussten, dass sie litt. Und bis zum Frühstück am nächsten Morgen hatten alle beschlossen, dass ich daran schuld sein musste. Ich fragte mich, wie das funktionierte. Meine erste Hypothese, nämlich dass Ala nach Hause gelaufen war und die Geschichte einem Schreibsaal voll erschütterter Suurs erzählt hatte, war augenscheinlich falsch. Meine zweite Hypothese lautete, dass man sie, nachdem sie beim Abendessen vermisst worden war, in erbärmlichem Zustand hatte heimkommen sehen; ich war etwas später nach Hause geschlichen; ergo hatte ich ihr etwas Böses angetan. Erst später verstand ich die viel einfachere Wahrheit: Andere hatten bemerkt, dass Ala ein Auge auf mich geworfen hatte, und wenn es Ala nun schlecht ging, konnte das nur daran liegen, dass ich etwas – egal was – Böses getan hatte.
Mit einem Streich war ich von jeder jungen Frau im Math ausgestoßen worden. Sämtliche Mädchen schienen nur noch entsetzt
zu sein, denn das war der Gesichtsausdruck, den jede von ihnen bei meinem Anblick bekam.
Das Ganze nahm mit der Zeit immer größere Ausmaße an. Wenn Ala meine Missetaten einfach auf ein Blatt geschrieben und es mir an die Brust geheftet hätte, wäre das nicht so schlimm gewesen; da aber die Menge an Informationen über das, was ich getan hatte, sich exakt auf Null belief, ging die Phantasie mit den Leuten vollkommen durch. Junge Suurs wichen vor mir zurück. Ältere funkelten mich das ganze Abendessen über an. Es spielt keine Rolle, was du getan hast, junger Mann … wir wissen, irgendetwas hast du getan.
Vier Tage lang sah ich Ala nicht wieder, was statistisch gesehen unmöglich war. Es deutete darauf hin, dass die anderen Suurs als Späherinnen fungierten, die alle meine Bewegungen verfolgten, damit sie Ala sagen konnten, welche Orte sie meiden sollte.
Arsibalt war so nervös, dass er kaum reden konnte, bis er drei Tage später völlig verdreckt zum Abendessen kam und mir im Flüsterton verriet, er habe die Tafel dort, wo Jesry und ich sie verbuddelt hatten (»lächerlich leicht zu finden«), ausgegraben und an einem viel besseren Ort (»sicher und wohlbehalten«) versteckt.
Jesry und ich versuchten erst gar nicht, irgendeinen Gegenstand finden zu wollen, den Arsibalt für sicher und wohlbehalten erachtete. Wir konnten nichts anderes tun als warten, bis er sich wieder beruhigt hatte.
Ich fand heraus, warum ich Ala nie sah: Sie und Tulia verbrachten übermäßig viel Zeit im Mynster, wo sie Instandhaltungsarbeiten an den Glocken durchführten, sonderbare Wechsel übten und ihr Wissen an jüngere Mädchen weitergaben, die sie eines Tages
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