Anathem: Roman
ablösen würden.
Die sonnigen Tage wurden häufiger. Manchmal konnte ich zur Turmspitze hinaufschauen und sehen, wie Sammann sein Mittagessen einnahm und durch seine Schutzbrille die Sonne fixierte. Jesry und ich beratschlagten, ob wir eine Glasscheibe schwärzen und es ihm damit gleichtun sollten, aber wir wussten, dass wir erblinden würden, wenn uns dabei ein Fehler unterlief. Ich erwog sogar, über die Mauer zu steigen, zur Maschinenhalle zu rennen und mir von Cord eine Schweißmaske auszuleihen. Doch das alles waren in Wirklichkeit nur Ablenkungsmanöver, um nicht an das Ala-Problem denken zu müssen. Am Anfang war das Ganze für mich eine Frage der Wiederherstellung meines guten Rufs gewesen. Doch nachdem
etwas Zeit verstrichen war und ich intensiver darüber nachgedacht hatte, wurde mir klar, worum es wirklich ging: Ich hatte in jemandes Seele einen Schlamassel angerichtet, und das zu einem Zeitpunkt, als diese Seele sich mir geöffnet hatte. Jetzt war sie verschlossen. Ich war der Einzige, der den Schlamassel beseitigen konnte, aber dazu musste ich erst dort hineinkommen. Und ich hatte keine Ahnung, wie, vor allem bei einer so leidenschaftlichen Person wie Ala.
Doch eines Tages, als ich mich wieder einmal dem Unkrautprojekt widmete, ging mir auf, dass bei jemandem wie ihr einseitige Abrüstung funktionieren könnte. Die Arbeit, die Lio und ich am Ufer verrichteten, brachte mich mit vielen wilden Frühlingsblumen in Berührung. Die Mädchen waren oben im Mynster mit Wartungsarbeiten am Glockenstuhl beschäftigt. Mit einem Mal erschien alles sonnenklar. Ich setzte den Plan in die Tat um, bevor ich ihn richtig durchdacht hatte. Zehn Minuten später schlafwandelte ich die Mynstertreppe hinauf, im Arm einen Strauß Blumen, den ich unter einer Falte meiner Kulle verbarg, weil eine von ihnen zu den Elf gehörte und ich im Begriff war, sie geradewegs durch den Regelwarthof zu tragen.
Das Fallgatter war immer noch verschlossen, die Treppe zum Strebepfeiler nicht zugänglich, der Zutritt zum oberen Teil des Praesidiums verboten. Unser Glockenspiel befand sich im unteren Abschnitt des Chronochasmus und war durch eine Leiter zu erreichen, die vom Wehrwarthof hinaufführte. Dieser Weg endete als Sackgasse in einer Art Wartungsverschlag unmittelbar unterhalb des Glockenspiels; höher ins Praesidium kam man hier nicht, sodass ich mich dorthin begeben konnte, ohne den Verdacht zu erwecken, ich könnte einen verbotenen Blick in den Himmel wagen.
Die Glocken selbst waren dem Wetter ausgesetzt. Unter ihnen befand sich dieser Verschlag mit einem Teil des Mechanismus, der die Glocken zum Läuten brachte. Dort oben konnte ich Ala und Tulia reden hören. Die Leiter führte hinauf zu einer Falltür im Boden des Verschlags. Während ich hinaufstieg, dröhnte mein Herz wie eine Glocke; um nicht zu fallen, hielt ich die Sprossen fest umklammert. Ich hatte die Blumen in meine Kulle gestopft, damit ich die Hände frei hatte, und jetzt rann mein Schweiß über die Blüten. Widerlich. Ala lachte über eine geistreiche Bemerkung von Tulia. Ich war froh zu hören, dass Ala lachen konnte, dann aber auf seltsame Weise bekümmert, dass sie schon über mich hinweggekommen war.
Eine Möglichkeit, unauffällig einzutreten, gab es nicht. Ich schob die Falltür hoch und klappte sie ganz auf. Die Mädchen verstummten. Ich hob den Strauß durch die Öffnung und ließ ihn auf einer Seite zu Boden fallen; der Hintergedanke war, dass er einen besseren ersten Eindruck machen würde als mein Gesicht, bei dessen Anblick junge weibliche Wesen in letzter Zeit praktisch schreiend davongerannt waren. Allerdings zögerte ich damit das Unausweichliche nur hinaus. Mein Gesicht war mit dem Rest von mir verbunden. Wir beide würden zusammen in Erscheinung treten müssen. Ich stieß das traurige Ding durch die Luke nach oben und schaute mich um, konnte aber nichts sehen; der Verschlag hatte zwar Fenster, aber die waren zugehängt worden. Die Mädchen erkannten mich jedoch mit ihren an die Dunkelheit gewöhnten Augen und wurden noch stummer, wenn so etwas überhaupt möglich ist. Ich hievte den Rest von mir durch die Öffnung.
Tulia ließ ihre Sphär Licht aussenden. Sie und Ala saßen, den Rücken an die Wand gelehnt, Seite an Seite auf dem Boden. Ich fragte mich, warum, war aber zu misstrauisch, um den Mund zu irgendeinem anderen Zweck aufzumachen als dem bevorstehenden. Also kniete ich mich seitlich neben der Falltür hin und raffte den Strauß zusammen.
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