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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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die Hälfte meines Lebens hatte ich damit zugebracht, mich sporadisch darüber zu ärgern. Hier machte es mir schließlich nichts mehr aus. Ich war zu sehr damit beschäftigt, Tulias und Alas Pfiffigkeit zu bewundern. Und wünschte, das wäre mir eingefallen. Man brauchte kein Objektiv und keinen Spiegel aus geschliffenem und poliertem Glas, um Dinge in weiter Ferne zu sehen. Ein einfaches Loch tat es auch. Das Bild, das es warf, war allerdings schwach, und deshalb musste man es sich in einem dunklen Raum anschauen – einer Camera obscura.
    Anscheinend hatte Tulia Ala alles über die Tafel, über Sammann und über meine Beobachtungen erzählt. Mir kam es jedoch vor, als wäre es Jahre her, dass dieses Zeug mir so wichtig gewesen war wie nun der Versuch, meinen Schlamassel zu beseitigen. Um genau zu sein, konnte ich jetzt, wo wir in der Dunkelheit beisammensaßen, auch das kleinste bisschen Interesse für die Sonne nur mit großer Mühe aufbringen. Sie schien. Die Photosynthese war gesichert. Es gab keine größeren Eruptionen und nur ein paar Flecken. Wen kümmerte das schon?
    Ein paar Minuten später wurde es noch schwieriger, sich um so etwas zu kümmern. Küssen war kein Fach, das in Schreibsälen gelehrt
wurde. Wir mussten es durch Ausprobieren lernen. Selbst die Fehlversuche waren gar nicht so schlecht.
    »Ein Funke«, sagte Ala – etwas gedämpft – eine Weile später.
    »Aber hallo!«
    »Nein, ich dachte, ich hätte einen Funken gesehen.«
    »Man hat mir gesagt, es sei normal, in Momenten wie diesem Sterne zu sehen …«
    »Bilde dir bloß keine Schwachheiten ein!«, sagte sie und schob mich zur Seite. »Gerade habe ich wieder einen gesehen.«
    »Wo?«
    »Auf dem Schirm.«
    Mit leicht verschwommenem Blick wandte ich ihm meine Aufmerksamkeit zu. Nichts war auf diesem Blatt zu sehen, außer der blassweißen Scheibe von vorher.
    Und …
    … einem Funken. Einem nadelstichgroßen Lichtpunkt, heller als die Sonne, und vergangen, bevor ich sicher sein konnte, dass er da gewesen war.
    »Ich glaube …«
    »Da ist er wieder!«, rief sie aus. »Er hat sich aber ein bisschen bewegt.«
    Wir beobachteten noch ein paar weitere. Sie hatte recht. Alle Funken waren unter der Sonnenscheibe und rechts davon. Aber jeder weitere war etwas höher und weiter links. Wenn man sie auf dem Blatt aufzeichnete, würden sie eine genau auf die Sonne zulaufende Linie bilden.
    Was würde Orolo tun? »Wir brauchen einen Stift«, sagte ich.
    »Hab keinen«, sagte sie. »Sie kommen einmal in der Sekunde. Vielleicht schneller.«
    »Gibt es etwas Scharfes?«
    »Die Nadeln!« Ala und Tulia hatten das Blatt mit vier Anstecknadeln an dem Brett festgesteckt. Ich zog eine heraus und ließ sie in ihre kleine warme Hand fallen.
    »Ich werde das Brett festhalten. Du stichst überall da, wo du einen Funken siehst, ein Loch in das Blatt«, sagte ich.
    Während wir die nötigen Vorkehrungen trafen, verpassten wir ein paar. Ich kniete mich auf einer Seite des Brettes hin, drückte es mit der Hand gegen die Wand und stabilisierte es unten mit dem Knie. Sie warf sich auf den Bauch und stützte sich auf ihre Ellbogen,
das Gesicht so nah an dem Blatt, dass ich in der schwachen, von der weißen Seite abstrahlenden Beleuchtung ihre Augen und den Schwung ihrer Wangen erkennen konnte. Sie war das schönste Mädchen im Konzent.
    Den nächsten Funken sah ich in ihrem Auge widergespiegelt. Schon kam ihre Hand hoch und stach ihn in das Blatt.
    »Es wäre wirklich gut, wenn wir die genaue Zeit wüssten«, sagte ich.
    Stich. »In ein paar Minuten wird er«, Stich, »selbstredend von dem Blatt hinunterwandern.« Stich. »Dann können wir losrennen und auf«, Stich, »die Uhr schauen.« Stich.
    »Irgendwas Komisches an diesen Funken bemerkt?« Stich.
    »Sie funktionieren nicht nach dem sofortigen Ein/Aus-Prinzip.« Stich. »Sie blitzen rasch auf«, Stich, »verblassen aber langsam.« Stich.
    »Ich meine eher die Farbe.« Stich.
    »Irgendwie bläulich?« Stich.
    Ein plötzliches Knirschen versetzte mir fast einen Herzschlag. Es war der automatische Mechanismus des Glockenturms, der gerade einsetzte. Die Uhr schlug zwei. Zu dieser Zeit wäre es üblich gewesen, sich die Ohren zuzuhalten. Das wagte ich nicht; Ala hätte mich mit dieser stechenden Nadel angefallen. Stich … Stich … Stich …
    »So viel zum Thema Uhrzeit«, sagte ich, als ich dachte, sie könnte mich vielleicht wieder hören.
    »Ich habe ein Dreifachloch auf den Funken gemacht, der dem Zweiuhrschlag am

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