Anathem: Roman
hatte
zuvor nur kurz einen Blick darauf geworfen. Cord und ich saßen auf dem Rücksitz. Die Sonne schien herein, sodass wir uns eine Decke über die Köpfe warfen und uns darunter zusammendrängten wie zwei Kinder, die Zelten spielten.
Dieses Ding, von dem Orolo so dringend hatte Bilder machen wollen: Würde es etwas sein, das wir als Raumschiff erkennen würden? Bis Sammann mir ein paar Stunden zuvor diese Tafel zeigte, hatte ich nur gewusst, dass es Plasma ausstieß, um seine Geschwindigkeit zu verändern, und dass es rote Laserstrahlen auf Dinge richten konnte. Nach allem, was ich gewusst hatte, hätte es ein ausgehöhlter Asteroid sein können. Es hätte eine an das Dasein im Vakuum des Raums angepasste Form außerarbrischen Lebens sein können, die aus einem Schließmuskel Bomben hinausschoss. Es hätte aus Dingen zusammengebaut worden sein können, die wir nicht einmal als Materie erkennen würden; es hätte nur halb in diesem Universum und halb in irgendeinem anderen gewesen sein können. Ich hatte mich also bemüht, offen zu sein. Ich war darauf vorbereitet gewesen, ein Bild vor mir zu haben, das ich zunächst gar nicht würde verstehen können. Und es war tatsächlich ein Rätsel gewesen. Allerdings nicht die Art von Rätsel, die ich erwartet hatte. Ich hatte nicht die Zeit gehabt, es zu studieren, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Jetzt konnte ich es mir richtig lange anschauen.
Das Bild war in Richtung der Bewegung des Raumschiffs gestreift. Fraa Orolo hatte das Teleskop vermutlich so eingerichtet, dass es das Raumfahrzeug quer über den Himmel verfolgte, aber dessen Richtung und Geschwindigkeit hatte er schätzen müssen, ohne sie jedoch ganz genau zu treffen, daher die Bewegungsunschärfe. Ich mutmaßte, dass dies nur das letzte in einer Reihe solcher Bilder war, die Orolo in den Wochen vor der Apert gemacht hatte und von denen jedes etwas besser war als das vorhergehende, da er lernte, wie er das Ziel verfolgen und die Belichtung justieren musste. Sammann hatte das Bild bereits irgendeinem syntaktischen Prozess unterzogen, um die Unschärfe zu reduzieren und viele Details hervorzuheben, die sonst verloren gewesen wären.
Es war ein Ikosaeder. Zwanzig Flächen, jede davon ein gleichseitiges Dreieck. So viel hatte ich schon gesehen, als Sammann es mir zum ersten Mal zeigte. Und genau darin lag das Rätsel, denn eine solche Form konnte entweder natürlich oder künstlich sein. Geometer liebten Ikosaeder, die Natur jedoch nicht minder; Viren, Sporen
und Pollen nahmen bekanntermaßen diese Form an. Vielleicht war es also wirklich eine an den Raum angepasste Lebensform oder ein Riesenkristall, der in einer Gaswolke gewachsen war.
»Dieses Ding kann nicht unter Druck gesetzt werden«, bemerkte ich.
»Weil die Oberflächen alle eben sind?«, sagte Cord – mehr Feststellung als Frage. Sie hatte bei der Arbeit mit komprimierten Gasen zu tun und wusste intuitiv, dass jeder unter Druck stehende Behälter gerundet sein musste: ein Zylinder, eine Kugel oder ein Torus.
»Schaut weiter«, riet uns Sammann.
»Die Eckpunkte«, sagte Cord, »die – wie nennt ihr sie noch gleich …«
»Vertices«, sagte ich. Diese zwanzig Facetten kamen an zwölf Vertices zusammen; jeder Vertex verband fünf Dreiecke. Diese schienen sich etwas nach außen zu wölben. Zuerst hielt ich das irrtümlich für eine Unschärfe. Bei näherem Hinsehen wurde mir jedoch klar, dass jeder Vertex eine kleine Kugel war. Und das zog meine Aufmerksamkeit auf die Kanten. Die zwölf Vertices waren durch ein Netz aus dreißig geraden Kanten verbunden. Und diese wirkten ebenfalls gerundet und gewölbt …
»Da sind sie!«, sagte Cord.
Ich wusste genau, was sie meinte. »Die Stoßdämpfer«, sagte ich. Jetzt war es nämlich offensichtlich: Jede der dreißig Kanten war ein langer, schlanker Stoßdämpfer, genau wie die an der Aufhängung von Cords Hol, nur größer. Der Rahmen dieses Raumschiffs war einfach ein Netz von dreißig Stoßdämpfern, die an einem Dutzend kugelförmigen Vertices zusammenkamen. Das ganze Ding war ein großes verteiltes Stoßdämpfersystem.
»In den Ecken müssen sich Kugelgelenke befinden, damit das funktioniert«, sagte Cord.
»Ja – sonst könnte der Rahmen nicht elastisch sein«, sagte ich. »Aber einen großen Teil davon verstehe ich nicht.«
»Woraus die Flächen gemacht sind? Die Dreiecke?«, sagte Cord.
»Ja. Es hat keinen Sinn, ein Dreieck aus etwas zu machen, das nachgibt, falls das Material in der Mitte
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