Anathem: Roman
Standpunkt. ›Wenn wir über die Welt – oder überhaupt fast alles – nachdenken‹, sagten sie, ›denken wir in Wirklichkeit über einen Haufen Daten – Gegebenheiten – nach, die von unseren Augen, Ohren und so weiter zu unserem Gehirn gelangt sind.‹ Um auf mein Beispiel zurückzukommen, ich verfügte über ein visuelles Bild von diesem Knopf und über eine Erinnerung daran, wie er sich anfühlte, als ich ihn berührte, aber das ist alles , womit ich in Bezug auf den Knopf arbeiten kann – es ist unmöglich , ja undenkbar , dass mein Gehirn sich mit dem konkreten physischen Knopf an sich auseinandersetzt, da mein Gehirn einfach keinen direkten Zugang zu ihm hat. Alles, womit mein Gehirn je wird arbeiten können, ist sein Aussehen und die Art, wie er sich anfühlt – Gegebenheiten, mit denen unsere Nerven gefüttert wurden.«
»Ich glaube, ich verstehe, was du meinst. Es hat nicht dieses Besserwisserische von dem anderen, das du erwähnt hast. Allerdings erscheint es mir wie eine Unterscheidung ohne Unterschied«, sagte Beller.
»Das ist es nicht«, erwiderte Arsibalt. »Und hier würde nun das Kuchenwettessen ansetzen, falls du wissen willst, warum es das nicht ist. Weil die Makroniker nämlich, ausgehend von dieser Idee, ein ganzes metatheorisches System entwickelt haben. Es war so einflussreich, dass seitdem niemand Metatheorik betreiben konnte, ohne sich damit auseinanderzusetzen. Jede später entstandene Metatheorik ist eine Widerlegung, eine Verbesserung oder eine Erweiterung des Makronischen Denkens. Und eine der wichtigsten Schlussfolgerungen, zu denen man gelangt, wenn man bis zum Ende des Kuchenwettessens durchhält, ist, dass …«
»Es keinen Gott gibt?«
»Nein, etwas anderes und schwerer Zusammenzufassendes, nämlich, dass manche Themen einfach Sperrgebiet sind. Die Existenz Gottes ist eins davon.«
»Was meinst du mit Sperrgebiet?«
»Wenn du der logischen Argumentation des Makronischen Systems folgst, wirst du zu dem Schluss geführt, dass unser Verstand nicht auf produktive oder nützliche Weise über Gott nachdenken kann, wenn mit Gott der Bazisch-Orthodoxe Gott gemeint ist, der eindeutig nicht raumzeitlich ist – das heißt, nicht in Raum und Zeit existiert.«
»Aber Gott existiert überall und zu allen Zeiten«, sagte Beller.
»Aber was bedeutet diese Aussage wirklich? Dein Gott ist mehr als diese Straße und dieser Berg und all die anderen physischen Objekte des Universums zusammengenommen, oder?«
»Gewiss. Natürlich. Sonst wären wir ja bloß Naturanbeter oder so was.«
»Für deine Definition von Gott ist es also entscheidend, dass er mehr ist als nur dieser große Haufen Zeug.«
»Natürlich.«
»Nun, dieses ›mehr‹ liegt per definitionem außerhalb von Raum oder Zeit. Und die Makroniker haben gezeigt, dass wir einfach nicht auf sinnvolle Weise über irgendetwas nachdenken können, das nicht durch unsere Sinne erfahrbar ist. Und ich sehe deinem Gesicht schon an, dass du nicht einverstanden bist.«
»Nein, bin ich nicht!«, bestätigte Beller.
»Das ist aber unerheblich. Wichtig ist, dass den Makronikern zufolge die Leute, die Theorik und Metatheorik betrieben, aufhörten, über Gott und bestimmte andere Themen wie freien Willen und die Frage, was vor dem Universum existierte, zu reden. Und genau das meine ich mit der Makronischen Regel. Zum Zeitpunkt der Rekonstitution war sie uns in Fleisch und Blut übergegangen. Ohne große Diskussion, ja, ohne dass wir es richtig wahrgenommen hätten, war sie Teil unserer Regel geworden.«
»Gut, aber bei der vielen freien Zeit, die ihr habt – während ihr da in euren Konzenten sitzt -, hätte sich in viertausend Jahren nicht irgendjemand mal darum kümmern, darüber diskutieren können?«
»Wir haben weniger freie Zeit, als du dir vorstellst«, sagte Arsibalt freundlich, »und trotzdem haben viele Leute viel über dieses Thema nachgedacht und Orden gegründet, die sich der Leugnung Gottes oder dem Glauben an ihn widmen, und sowohl innerhalb der Mathe als auch zwischen ihnen sind Strömungen aufgebrandet und abgeebbt. Doch nichts von alldem scheint uns von der Grundposition der Makroniker abgebracht zu haben.«
»Glaubst du an Gott?«, fragte Beller rundheraus.
Fasziniert beugte ich mich vor.
»In letzter Zeit habe ich viel gelesen über Dinge, die nicht raumzeitlich sind – an deren Existenz man dennoch glaubt.« Ich wusste, dass er damit mathematische Objekte in der Hyläischen Theorischen Welt meinte.
»Läuft
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