Anathem: Roman
besitzen.
Cord war still, wenn ich sie nicht gerade anschaute, woraufhin sie grantig wurde. Ich war gelangweilt und ungeduldig. Als wir uns
endlich wieder auf den Weg machten, dachte ich, es müsste ungefähr Mittag sein. Nach der Uhr in Cords Hol zu urteilen waren es bis dahin jedoch noch ganze drei Stunden.
Wir fuhren hinauf in die Berge. Das war etwas Neues für mich. Jede Reise wäre für mich neu gewesen. In meiner Kindheit, vor meinem Eintritt in den Konzent, hatte ich die Stadt ein paar Mal verlassen – als die Älteren mich auf Ausflüge zu ihren Freunden oder Verwandten ins Hinterland mitgenommen hatten. Nach meiner Zulassung war ich natürlich gar nicht mehr gereist. Und ich hatte es nicht vermisst. Ich hatte nicht gewusst, dass es etwas zu vermissen gab. Als ich nun hier oben in den Hügeln und Bergen natürliche Schneisen durch den Wald, hellgrüne Wiesen, alte Holzabfuhrstraßen, verlassene Festungen, baufällige Hütten und eingestürzte Schlösser sah, fing ich an mir vorzustellen, wie ich diese Orte aufsuchen würde, wenn ich Zeit hätte, anzuhalten und einen Spaziergang zu machen. So gesehen war diese Landschaft völlig anders als der Konzent, dessen Pfade über Jahrtausende hinweg ausgetreten worden waren und wo es kühn erschien, in den Keller von Shufs Dotat zu gehen. Daraufhin fragte ich mich, wohin mein Geist wohl wandern und wohin der Lauf der Ereignisse mich bringen würde, nun, da die Umstände mich gezwungen hatten, den Konzent zu verlassen und mich an solche Orte zu wagen.
Cord legte andere Musik auf. Die Popsongs, die sie die letzten Tage gespielt hatte, wirkten hier fehl am Platz. Deren schöne Passagen hielten dem Vergleich mit dem, was wir durch die Fenster sehen konnten, nicht stand, und die derben passten einfach nicht. Sie besaß eine Aufnahme von der Musik des Konzents, die wir neben unserem Honig und unserem Met auf dem Markt vor dem Tagestor verkauften. Sie ließ eine zufällige Auswahl davon laufen, angefangen mit einer Wehklage über die Dritte Verheerung. Für Cord war das lediglich die Auswahl Nummer 37. Für mich war es so ziemlich das kraftvollste Musikstück, das wir hatten. Wir sangen es nur ein Mal im Jahr, am Ende einer Woche, die wir mit Fasten und dem Aufsagen der Namen der Toten und der Titel der verbrannten Bücher verbracht hatten. Irgendwie war es die richtige Stimmung: Wenn die Cousins sich als feindselig erwiesen, könnten sie die Welt verheeren.
Wir kamen um eine Kurve und standen vor einer Mauer aus purpurrotem Stein, die so hoch aufragte, dass sie eine Meile über unseren Köpfen in einer Wolkenschicht verschwand. Sie musste schon
eine Million Jahre dort stehen. Sie zu sehen, während ich die Wehklage hörte, erzeugte in mir ein Gefühl, das ich nur als Patriotismus für meinen Planeten beschreiben kann. Bis zu diesem Moment in der Geschichte hatte nie eine Veranlassung für solche Gefühle bestanden, denn außer Lichtpunkten am Himmel hatte es jenseits von Arbre nie irgendetwas gegeben. Das hatte sich jetzt geändert, und statt mich als Mitglied der Provenemannschaft oder Angehörigen des Dezenariermaths oder des Edharischen Ordens zu sehen, fühlte ich mich als Weltbürger und war stolz, meinen kleinen Beitrag zu ihrem Schutz zu leisten. Ich war es zufrieden, ein Efferat zu sein.
Kasinos und Spulos waren nicht die einzigen neuen Erfahrungen, die man machte, wenn man extramuros ging. Selbst wenn man allein reiste und sich nur in der Wildnis aufhielt – wenn man also nie eine Einkaufsmeile sah und kein Wort Fluckisch hörte -, bekam man Informationen, nicht über die säkulare Welt, sondern über die Welt, die vor ihr da gewesen war, den Urzustand, aus dem Kulturen und Zivilisationen hervorgegangen und in den sie wieder versunken waren. Die Quelle der säkularen – aber auch der mathischen Welt. Den Ursprung, an dem siebentausend Jahre zuvor diese Welten auseinandergegangen waren.
Meer der Meere: Relativ kleines, aber komplexes salzhaltiges Gewässer, das an drei Stellen durch Meerengen mit Arbres großen Ozeanen verbunden ist und im Allgemeinen als Wiege der klassischen Zivilisation gilt.
DAS WÖRTERBUCH, 4. Auflage, A. R. 3000
Wir erreichten den Gipfel und fuhren hinab in eine kleine Stadt namens Norslof. Das überraschte mich. Ich hatte die Kartabla gesehen. Doch auf der Phantasiekarte der Welt, die ich im Kopf hatte, gingen die Berge noch ein ganzes Stück weiter.
Orolo hatten wir nicht gefunden, aber wenigstens hatten wir ein Mal die Gegend
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