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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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ein Grünschnabel, der Rat für eine Reise in die unwirtliche Natur brauchte. Immerhin war das eine Überleitung zu dem Thema, wie man im hohen Norden zurechtkam, worüber er eine Menge wusste.
    Später fragte ich ihn, ob all seine Reisen in diese Richtung geführt hätten, und er lachte auf und sagte, nein, er habe Jahre als Flussführer in einer Gegend südlich von Samble verbracht, die von
tiefen Sandsteinschluchten mit atemberaubenden Felsformationen zerfurcht war. Über diese Reisen erzählte er ein paar interessante Geschichten, aber nach einer Weile begann er sich unwohl zu fühlen und hörte irgendwann auf zu reden. Geschichten zu erzählen, war anscheinend eine gute Art, die Dinge aufzulockern, ein nützlicher Zeitvertreib, aber was er sich wirklich wünschte, war ein Projekt, in das er seine ganze Energie und Intelligenz stecken konnte.
    Irgendwann im Laufe des Tages hörte er auf, »ihr« zu sagen (»Ihr werdet eine Extraration Treibstoff brauchen, falls ihr einmal Schnee zu Trinkwasser schmelzen müsst«), und fing an von »wir« zu sprechen (»Wir sollten mindestens vier Reservereifen einplanen«).
    Yuls Haus war wirklich nur ein Abladeplatz für Zeug, das nicht mehr in seinen Hol passte: Campingausrüstung, Fahrzeugteile, leere Flaschen, Waffen und Bücher. Die Bücher türmten sich in Stapeln, die mir bis zur Hüfte reichten. Er schien keinerlei Regale zu besitzen. Viele davon waren Romane, es gab aber auch mehrere Geologiestapel. An die Wand hatte er großformatige Phototypien mit Vergrößerungen von bunten, sedimentären Felsformationen genagelt, denen Wasser und Wind ihre Gestalt gegeben hatten. In seinem Keller, in den wir hinabstiegen, um noch mehr Ausrüstungsgegenstände auszugraben, bewahrte er stapelweise Felsplatten – Tafeln aus Sandstein – mit Fossilien darin auf.
    Als wir alles, wovon er glaubte, dass wir es brauchen würden, beisammenhatten und durch einen weiteren Verkehrsstau hindurch wieder auf dem Weg zu der Tankstelle waren, sagte ich zu ihm: »Du hast herausgefunden, dass die Welt alt ist, nicht wahr?«
    »Ja«, antwortete er sofort. »Ich bin jahrelang auf Flößen diese Flüsse hinuntergefahren. Jahrelang. Auf der ganzen Strecke sind die Ufer mit Felsbrocken übersät. Felsen, so groß wie Häuser, die weiter oben von den Wänden der Schlucht abgesprungen sind. Wenn man nur in eine dieser Schluchten hinabschaut, kann man sehen, dass es andauernd passiert.«
    »Du meinst, dass Felsblöcke hinunterfallen.«
    »Ja. Jeder Idiot, der diese Landstraße entlang fährt und Schleuderspuren, so wie diese da, auf dem Asphalt sieht, weiß, dass Fahrzeuge manchmal ins Schleudern geraten. Sieht man aber viele Schleuderspuren, dann weiß man, dass Fahrzeuge hier üblicherweise schleudern. Wenn du in einer Schlucht viele herabgestürzte Felsblöcke siehst, dann sind Felsstürze üblich. Deshalb erwartete ich
dauernd, einen zu sehen. Jeden Tag bin ich mit meinen Kunden auf diesem Floß den Fluss hinuntergefahren, und jedes Mal haben sie geschlafen oder sich über alles Mögliche unterhalten, während ich, darauf gefasst, einen Felssturz zu sehen, die Wände der Schlucht genau beobachtet habe.«
    »Aber du hast keinen gesehen.«
    »Nein. Nicht einen einzigen.«
    »So wurde dir klar, dass der Zeitmaßstab gewaltig sein musste.«
    »Ja. Ein Mal habe ich versucht, ihn auszurechnen. Wenn Arbre nur fünftausend Jahre alt ist und wenn alle Felsblöcke in der Schlucht innerhalb dieser kurzen Zeit herabgestürzt sind, hätte ich ein paar Felsen fallen sehen müssen.«
    »Den Leuten in deiner Arch gefiel nicht, was du darüber zu sagen hattest«, mutmaßte ich.
    »Nicht ohne Grund bin ich aus Samble fortgezogen.«
    Das war das Ende dieser Unterhaltung. Es war die abendliche Stoßzeit, und wir fuhren lange Zeit schweigend dahin. Mich faszinierten die kleinen Einblicke in das Leben anderer Leute, die ich durch die Fenster ihrer Mobos bekam. Dann fiel mir auf, wie sehr Yuls Leben sich offenbar von ihrem unterschied.
    Die Art und Weise, wie Yul beschlossen hatte, sich uns auf unserer Reise in den Norden anzuschließen, war mir fremd. Es hatte kein rationaler Entscheidungsprozess stattgefunden: kein Sortieren von Argumenten, kein Abwägen von Optionen. Aber genau so lebte Yul sein ganzes Leben. Er war – wie mir irgendwann klar wurde – nicht von Gnel eingeladen worden, uns an der Tankstelle zu besuchen. Er war einfach aufgetaucht. An jedem Tag seines Lebens machte er etwas Neues mit einer neuen Gruppe

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