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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Cord, aber ich konnte nicht umhin, deine Hälfte dieser Gespräche mitzuhören, und ich wüsste nicht, dass ich irgendein Wort gehört hätte, das auch nur entfernt mit Trennung zu tun hatte.«
    Sie sah mich an, als wäre ich schwachsinnig.
    »Ich meine ja nur«, sagte ich mit erhobenen Händen, »dass ich keine Ahnung hatte, was da vor sich ging.«
    »Ich auch nicht«, sagte Cord.
    »Glaubst du …«, fing ich an und verstummte. Ich hatte sagen wollen: Glaubst du, dass Rosk es weiß? , erkannte aber gerade noch rechtzeitig, dass das Selbstmord wäre. Für mein Empfinden war das eine ziemlich ungehörige Art, mit einer wichtigen Beziehung umzugehen, aber dann fiel mir wieder ein, wie die Dinge mit mir und Ala gelaufen waren, und ich beschloss, dass es mir nicht anstand, meine Blutsverwandte in diesem Punkt zu kritisieren.
    Cord und ich hatten erstaunlich wenig über unsere Familie gesprochen – das heißt, die Familie, die ich mit ihr geteilt hatte, bis ich »zur Uhr gegangen« war. Aber das Wenige, das ich gehört hatte, hatte bei mir Erstaunen über die Raffinesse ausgelöst, mit der Leute
Wege fanden, einander verrückt und unglücklich zu machen, ob es nun Verwandte waren oder eine Masse von Fremden, mit denen sie in einem Konzent zusammengeworfen worden waren. In ihrem Wissen, ihrer Erfahrung und ihrem Zynismus in solchen Dingen kam Cord mir manchmal wie eine Achtzigjährige vor. Ich wurde die Vorstellung nicht los, dass sie irgendwann aufgegeben und beschlossen hatte, den Rest ihres Lebens der Beherrschung von Dingen wie etwa Maschinen zu widmen, die man begreifen und reparieren konnte. Kein Wunder, dass sie den Gedanken an Maschinen, die sie nicht verstehen konnte, verabscheute. Kein Wunder auch, dass sie kaum Zeit auf den Versuch verschwendete, Dinge zu verstehen, die sie nicht verstehen konnte – etwa, warum sie jetzt Yuls Freundin war.
     
    Als das Klima wärmer gewesen war, waren im Laufe einiger tausend Jahre Zivilisationen über diese von Gletschern geplättete Landschaft hin und her geschwappt wie Feinsand in der Pfanne eines Bergmanns und hatten dabei Ablagerungen aus Bauten gebildet, die sich noch hielten, als die Leute schon lange weg waren. Während dieser Jahrtausende mochten zu jeder Zeit eine Milliarde Menschen in diesem Gebiet gelebt haben, das jetzt noch einige Zehntausend beherbergte. Wie viele Leichname waren hier begraben, die Asche wie vieler Menschen mochte hier verstreut sein? Zehn, zwanzig, fünfzig Milliarden alles in allem? Angesichts der Tatsache, dass sie alle Strom benutzten, wie viele Meilen Kupferdraht waren durch ihre Gebäude und unter ihren Gehwegen verlegt worden? Wie viele Mannjahre hatte man allein der Tätigkeit gewidmet, diese Drähte auszuziehen und mit Krampen zu befestigen? Wenn einer von tausend Elektriker war, hatte man ungefähr eine Milliarde Mannjahre darauf verwandt, Draht von einem Punkt zum nächsten zu führen. Nachdem es wieder kalt geworden war und die Zivilisationen sich im Verlauf von wenigen Jahrhunderten – der Bewegung von Gletschern gleich – nach Süden verlagert hatten, waren die ersten Plünderer hier heraufgekommen, um diese Milliarden Mannjahre in vielen ermüdenden Stunden rückgängig zu machen und diese zahllosen Meilen Draht Elle um Elle wieder herauszuziehen. Professionelle Plünderer, die in industriellem Maßstab arbeiteten, hatten neunzig Prozent davon schnell erledigt. Ich hatte Bilder von Fabriken auf Panzerketten gesehen, die quer durch den Norden rollten und ganze städtische Komplexe auf einmal verschlangen, indem sie das
Material der Ruinen so behandelten wie ein Minenroboter einen erzhaltigen Berg, nämlich die Gebäude zu Schutt zermahlten und die Bruchstücke nach ihrer Dichte sortierten. Die ersten Ruinen, die wir gesehen hatten, waren die Fäkalien gewesen, die diese Maschinen auf ihren Wegen hinterließen.
    Ruinen von Hand zu demontieren, war teurer. Als die Zeiten anderswo gut waren, wurden Metalle so wertvoll, dass Bergleute ihren Lebensunterhalt damit verdienen konnten, sich in tiefliegende Ruinen vorzuwagen – weit verstreute Städte von einst, von den Gleiskettenfabriken nie erreicht – und alles wirklich Wertvolle herauszuholen: Kupferdraht, Stahlträger, Leitungsrohre und Ähnliches. Die Beute bewegte sich in unregelmäßigen Etappen, von einem anarchischen kleinen Marktflecken in der Tundra zum nächsten, auf die Straße zu, auf der wir fuhren. Schneestürme und arktische Piratenbanden mochten ihr Fortkommen

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