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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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gewesen, aber Jesry zu sehen, hatte mich schockartig aufgerüttelt. Wenn ich dennoch zwölf Stunden am Stück schlief oder mir Spulos anschaute, während meine Freunde so hart wie immer arbeiteten und auf gefährliche Missionen gingen, lag es daran, dass es für mich schwierig war, mich entsprechend zu verhalten. Die dauernde Vibration und gelegentliche holprige Verschiebungen des Schlittenzuges – weiter konnte man vom Klostrum kaum entfernt sein. Lesen und Schreiben waren schwierig; selbst Spulos zu schauen lohnte sich kaum. Nach draußen zu gehen, war ausgeschlossen. Ich konnte verstehen, warum hier draußen so viele Leute drogenabhängig waren.
    Vor der Abfahrt hatte Sammann recherchiert, wie man ohne Papiere heimlich über die Grenze gelangen konnte. Wirtschaftsflüchtlinge taten das andauernd, und manche von ihnen hatten ihre Erfahrungen aufgezeichnet, was mir einen groben Eindruck davon gab, was man tun durfte und was nicht. Was man auf gar keinen Fall tun durfte, war, die ganze Zeit über im Zug zu bleiben. Anscheinend waren sie an der Schlittenzugstation auf der anderen Seite wesentlich pingeliger als an der, wo wir abgefahren waren. An einem Vorposten zwei Grad nördlich der Station stiegen Beamte in den Zug und suchten ihn während der letzten paar Stunden der Fahrt von vorne nach hinten ab. Man konnte versuchen, sich vor ihnen zu verstecken, aber das war riskant. Stattdessen sprangen Illegale eher
kurz vor dem Vorposten vom Zug ab und schlossen ein Geschäft mit lokalen Schlittenzugfahrern, die sie dann an dem Grenzposten vorbeizauberten.
    Davon gab es zwei Kategorien. Die älteren, etablierteren Schmuggler hatten größere Langstreckenschlittenzüge, mit denen sie über die Berge zu der ein paar hundert Meilen entfernten zugefrorenen Küste fuhren. Daneben gab es einen jüngeren Schlag, der mit kleinen, wendigen Kurzstreckenschneefahrzeugen lediglich die Schlittenzugstation selbst umfuhr. So eins hofften wir für mich zu bekommen. Allerdings konnten die Kleinen bei schlechtem Wetter nicht fahren. Natürlich hätte diese ganze Schmuggelei unterbunden werden können, wenn die Säkulare Macht es wirklich gewollt hätte, aber wie es schien, war sie bereit wegzuschauen, solange die Illegalen ihr die Höflichkeit erwiesen, ein bisschen gerissen zu sein.
    Wegen der Störung der Navigationssatelliten durch die Cousins kannten wir zwar unsere Breite nicht, konnten aber mittels ungefährer Berechnung vermuten, wie weit wir gekommen waren. Als wir dachten, dass wir nah dran waren, zog ich alle warmen Kleider, die ich hatte, an und füllte die Treibstoffblase in meinem Anzugsack auf. Der Rucksack, den ich beim Voko bekommen hatte, war zu klein, zu neu und zu schön, aber Yul sagte, in seinem Hol habe er noch einen alten, größeren mit Metallrahmen. Also zog auch er sich warm an, und dann machten wir uns auf den Weg über die Laufstege nach hinten zu dem Tieflader. Den Wind hatten wir im Rücken, aber wenn die Schlitten über Erhöhungen im Eis buckelten, schwankten wir und ruderten mit den Armen. Wir mussten drei Fuß Schnee von seinem Fahrzeug schaufeln. Während wir damit beschäftigt waren, begann es wieder zu schneien, und zuweilen schien mehr herunterzukommen, als wir wegschaufeln konnten. Am Ende kamen wir dann doch in Yuls Hol hinein und fanden einen alten Militärrucksack, der in der Gesellschaft, in der ich bald verkehren würde, nicht zu sehr auffallen würde. Ich packte den Inhalt meines kleinen Rucksacks um. Den restlichen Platz füllten wir mit Energieriegeln, Ersatzkleidung und anderem Kleinkram und schnürten für den Fall der Fälle seitlich ein paar Schneeschuhe fest.
    Als wir wieder am Kopf des Zuges angelangt waren, versorgte Gnel mich mit Münzgeld: genug, um die Fahrt zu bezahlen, wenn ich feilschte, aber nicht genug, um mich als reich zu brandmarken. Sammann druckte eine Karte der Gegend um die Schlittenzugstation
aus. Cord umarmte mich und gab mir einen Schmatz auf die Wange. Ich ging hinaus auf den Laufsteg, zog den Rand meiner Kapuze mit Kunstfellbesatz vor, um mein Gesicht vor Windstößen zu schützen, und schaute links am Zug hinunter. Wie ein Wurf Jungtiere, die ihrer Mutter folgen, beschatteten uns auf dieser Seite jetzt drei kleinere Schlittenzüge. Sie hatten innerhalb der letzten Viertelstunde aus dem Sturm heraus Gestalt angenommen. Jeder bestand aus einer kettenbewehrten Schneeraupe, die ein paar Schlitten hinter sich her zog. Manche dieser Schlitten waren offene Kästen oder

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