Anathem: Roman
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Ein paar Minuten später waren alle zweiunddreißig Fids und Großsuur Tamura zusammen im Saunt Grod-Schreibsaal, der normalerweise für achtzehn Personen gedacht war. »Sollen wir in Saunt Venster umziehen, wo mehr Platz ist?«, schlug Suur Ala vor. Sie war die selbsternannte Chefin der Glockenläutemannschaft – und jeder anderen Person in Reichweite ihrer Scheinwerferaugen. Hinter Alas Rücken tuschelten die Leute gerne, dass sie aus der ganzen gegenwärtigen Schar von Fids es am ehesten zur Regelwartin bringen würde.
Großsuur Tamura tat, als hätte sie das nicht gehört. Sie lebte seit fünfundsiebzig Jahren hier und wusste genau, wie groß die zur Verfügung stehenden Säle waren. Es musste einen Grund haben, dass sie diesen gewählt hatte – vermutlich, dämmerte es mir, weil niemand Unwissenheit oder Langeweile verbergen konnte, wenn wir so dicht zusammengedrängt waren. Wir hatten nicht genug Platz,
um unsere Sphärs in Hocker zu verwandeln, und so ließen wir sie in Pillenform in unseren Kullen stecken.
Mir fiel auf, dass manche der Suurs noch näher beieinanderstanden, als eigentlich notwendig gewesen wäre, und sich gegenseitig an die Schultern schnieften. Eine von ihnen war Tulia, die ich ziemlich mochte. Ich war achtzehn. Tulia war etwas jünger. Neulich hatte ich davon geträumt, wenn sie volljährig wäre, eine Liaison mit ihr zu haben. Im Allgemeinen schaute ich sie häufiger an als unbedingt nötig. Manchmal schaute sie zurück. Doch als ich jetzt versuchte, ihren Blick aufzufangen, wandte sie sich demonstrativ ab und richtete ihre roten, geschwollenen Augen auf das große Buntglasfenster über der Schiefertafel. Da es (a) draußen dunkel war und (b) das Fenster Saunt Grod und seine Forschungsgehilfen darstellte, wie sie im Kerker irgendeines Spionagedienstes des Praxischen Zeitalters mit Gummischläuchen geschlagen werden, und (c) Tulia bereits ungefähr ein Viertel ihres Lebens in diesem Raum zugebracht hatte, vermutete ich, dass es eigentlich nicht um die genaue Betrachtung des Fensters ging.
Wenn ich auch beschränkt bin, so wurde mir doch schließlich bewusst, dass unsere Schar von zweiunddreißig Fids in dieser Konstellation zum letzten Mal in unserem Leben zusammengekommen war. Die Mädchen mit ihrer übernatürlichen Fähigkeit, solche Dinge wahrzunehmen, reagierten darauf, wir Jungen mit unserer ebenso unheimlichen Stumpfheit waren nur insoweit betroffen, als die Mädchen, auf die wir standen, die eine oder andere Träne vergossen.
Großsuur Tamura hatte uns allerdings nicht aus reiner Sentimentalität herzitiert. »Unser Thema sind die Ikonographien und deren Ursprünge«, verkündete sie. »Falls ich feststelle, dass ihr genug wisst und obendrein auch noch die Bedeutung dessen, was ihr wisst, versteht, werdet ihr während der zehn Tage der Apert frei extramuros umherstreifen dürfen. Andernfalls werdet ihr zu eurer eigenen Sicherheit im Klostrum bleiben. Fid Erasmas, was sind die Ikonographien, und warum befassen wir uns mit ihnen?«
Warum hatte Großsuur Tamura die erste Frage an mich gerichtet? Vermutlich, weil ich diese Befragungen von Fraa Orolo transkribiert hatte und den anderen gegenüber im Vorteil war. Ich beschloss, meine Antwort entsprechend zu formulieren. »Also, die Extras …«
»Die Säkulare«, korrigierte Tamura mich.
»Die Säkulare wissen, dass es uns gibt. Sie wissen nicht so recht, was sie von uns halten sollen. Die Wahrheit ist so kompliziert, dass sie sie nicht im Kopf behalten können. Anstelle der Wahrheit haben sie vereinfachte Darstellungen – Karikaturen – von uns. Diese kommen und gehen, und das seit der Zeit des Thelenes. Wenn man sie aber mit etwas Abstand betrachtet, erkennt man Muster, die immer wiederkehren, wie … wie Attraktoren in einem chaotischen System.«
»Erspar mir derlei poetische Ergüsse«, sagte Großsuur Tamura und verdrehte dabei die Augen. Darauf folgte großes Gekicher, und ich musste mich zwingen, nicht in Tulias Richtung zu schauen.
Ich fuhr fort: »Nun, vor langer Zeit wurden diese Muster von Avot, die Extramuros erforschen, identifiziert und systematisch aufgeschrieben. Sie heißen Ikonographien. Sie sind wichtig, weil wir, wenn wir wissen, welche Ikonographie ein bestimmter Extra – Verzeihung, ein bestimmter Säkular – im Kopf mit sich herumträgt, eine gute Vorstellung davon haben, was er von uns denkt und wie er auf uns reagieren könnte.«
Großsuur Tamura ließ nicht erkennen, ob meine Antwort ihr
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