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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Korlandin war dabei, mich für den Neuen Zirkel abzuklopfen, vielleicht sogar anzuwerben.
    Mich hatte man immer als Fid von Orolo und ein paar anderen Edhariern betrachtet, die ihn bei seiner Theorik unterstützten. Sie verbrachten ganze Tage in winzigen Schreibsälen, und wenn sie herauskamen, ging ich hinein und schaute mir ihre verworrenen Handschriften auf den Schiefertafeln an – ineinander laufende Stränge aus Gleichungen und Diagrammen, von denen ich vielleicht jedes zwanzigste Symbol verstand. Zum damaligen Zeitpunkt sollte ich eigentlich an einem Problem arbeiten, das Orolo mir aufgegeben hatte: einer photomnemonischen Tafel mit einem Bild vom Saunt Tankred-Nebel, auf dessen Grundlage ich bestimmte Fragen über die Bildung schwerer Kerne im Inneren von Sternen beantworten sollte. Eindeutig keine Übung für den Neuen Zirkel. Warum also waren die Leute vom Neuen Zirkel auf den Gedanken gekommen, ich könnte mich bei der Elikt für sie entscheiden?
    »Orolo ist ein beeindruckender Theoriker«, sagte Fraa Korlandin. »Ich bedaure, nicht mehr von ihm suviniert worden zu sein.«
    Was daran nicht stimmte, lag auf der Hand: Die Chancen waren
groß, dass Korlandin die nächsten sechzig oder siebzig Jahre im selben Math verbringen würde wie Orolo. Falls er das, was er sagte, ernst meinte, warum nahm er dann nicht einfach seinen Suppenteller und ging durch das Refektorium zu Orolos Tisch?
    Zum Glück hatte ich den Mund voll Brot, weshalb ich Fraa Korlandin nicht einem vernichtenden Sturm theleanischer Analysis aussetzte. Während des Kauens hatte ich genug Zeit zu erkennen, dass er nur höfliche Luftblasen von sich gab. Edharier redeten nie so. Da ich ständig mit Edhariern zusammen war, hatte ich vergessen, wie man das machte.
    Ich versuchte, die Teile meines Verstandes auszupacken, die man für höfliche Konversation brauchte – vermutlich ohnehin keine schlechte Idee, am Vorabend der Apert. »Ich bin sicher, du könntest dafür sorgen, dass Orolo dich suviniert, indem du dich neben ihn setzt und etwas Falsches sagst.«
    Fraa Korlandin gluckste über meinen Scherz. »Leider weiß ich so wenig über die Sterne, dass ich nicht einmal etwas Falsches sagen kann.«
    »Nun, heute hat er ausnahmsweise einmal etwas gesagt, was nichts mit den Sternen zu tun hatte.«
    »Genau das habe ich gehört. Wer hätte ahnen können, dass unser Kosmograph ein Liebhaber toter Sprachen ist?«
    Dieser ganze Satz ging an mir vorbei – ungefähr so, wie wenn man eine Scheibe Dosenobst isst, die einem, bevor man die Möglichkeit hatte, darauf zu kauen, schon die Kehle hinuntergerutscht ist. Als ich schließlich den Bogen mit dem höflichen Geplauder wieder heraus hatte, erwiderte ich seine Gefälligkeit, indem ich über seine Bemerkung kicherte. Doch bevor ich wirklich über das, was er sagte, nachdenken konnte, fiel mir auf, dass Lio und Jesry ihre Schüsseln in die Küche trugen. Zwei andere Fids standen auf und gingen hinter ihnen her, als wären sie in ihr Kielwasser geraten.
    Ihren Blicken folgend bemerkte ich, dass Großsuur Tamura mit verschränkten Armen am Ausgang stand.
    Sie reagierte, als hätte ich sie quer durch einen überfüllten Schreibsaal mit einem Papierkügelchen getroffen, denn sie schwenkte den Kopf herum, um mich mit den Augen unter Beschuss zu nehmen. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was vor sich ging, entschuldigte mich aber bei Fraa Korlandin und trug meine Schüssel in die
Küche. Dort befanden sich sieben von den anderen Fids, die gerade hastig ihre Schüsseln säuberten, aber auch nicht mehr wussten als ich.
    Inkantor: Eine Sagengestalt, die in der säkularen Vorstellung mit der mathischen Welt verbunden und für fähig gehalten wurde, physische Realität durch die Beschwörung bestimmter kodierter Wörter oder Sätze zu verändern. Die Idee lässt sich auf Forschungen zurückführen, die in der mathischen Welt vor der Dritten Verheerung durchgeführt wurden. Völlig übertrieben wurde sie in der Populärkultur, wo fiktive (angeblich mit halikaarnischen Traditionen verbundene) Inkantoren sich auf mehr oder minder spektakuläre Weise mit ihren sterblichen Gegenspielern, den (angeblich mit den Prokiern verbundenen) Rhetoren duellierten. Eine einflussreiche Suvin unter den Geschichtswissenschaftlern behauptet, die Unfähigkeit vieler Säkulare, zwischen derlei Unterhaltung und der Realität zu unterscheiden, sei weitgehend für die Dritte Verheerung verantwortlich gewesen.
    DAS WÖRTERBUCH, 4. Auflage, A. R.

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